Warum nur Menschen gute Geschichten erzählen
20. März 2023Wir alle erzählen Geschichten. Von Höhlenmalereien über Hieroglyphen, Prosa und Poesie, Gesang und Tanz bis hin zu Filmen und computergenerierten Bildern ist Studien zufolge das Erzählen von Geschichten für die menschliche Existenz von zentraler Bedeutung. Denn im Kern geht es darum, miteinander zu kommunizieren und so eine Verbindung zu schaffen.
Durch das Geschichtenerzählen werden über Generationen und verschiedene Kulturen hinweg Informationen über die Vorfahren und soziale Bräuche weitergegeben, herausragende Leistungen gepriesen und abschreckende Beispiele in Erinnerung behalten.
"Ich denke, Geschichten werden so ziemlich überall erzählt. Werbung erzählt Geschichten. Wenn wir Kindern im Klassenzimmer etwas erklären oder wenn sie erklären, warum sie heute zu spät zur Schule gekommen sind, dann sind das Geschichten. Je besser der Geschichtenerzähler ist, desto besser kann er mit Dingen durchkommen. Unsere Politiker sind Geschichtenerzähler, sonst würden sie nicht gewählt", erklärt die indisch-britische Geschichtenerzählerin Chitra Soundar im Gespräch mit der DW.
Eine geborene Geschichtenerzählerin
Es gibt verschiedene Erzählformen: mündlich, schriftlich, digital oder visuell. Das mündliche Erzählen, das in erster Linie mit Stimme und Gesten erfolgt, ist Jahrtausende alt. Neben dem gesprochenen Wort umfasst das mündliche Geschichtenerzählen auch Gedichte, Gesänge und sogar Tänze.
Die Kinderbuchautorin Chitra Soundar begann schon mit vier oder fünf Jahren, an ihren Fähigkeiten als Geschichtenerzählerin zu feilen, denn sie stammt aus einer Familie von Geschichtenerzählern. "Meine Mutter ist eine Improvisationstheaterautorin. Meine Großmutter hat uns immer viele Geschichten erzählt", so Soundar, die als Siebenjährige in der Schule ihren ersten Preis als Geschichtenerzählerin gewann.
Damals erzählte sie ihre Cousins und Cousinen Geschichten, heute besteht ihr Publikum vor allem aus Schulkindern. Sie tritt auch in Bibliotheken und bei Literaturveranstaltungen in Großbritannien und im Ausland auf. Oft erzählt sie Geschichten, die sie als Kind bei ihrer indischen Großmutter hörte. "Wir bezeichnen sie als Gaunergeschichten, aber es sind alles Geschichten darüber, was richtig und falsch ist, über Fairness und Gleichheit."
Darüber hinaus hat Soundar Geschichten für Kinder geschrieben, in denen sie Naturphänomene oder den Klimawandel auf unterschiedliche Weise erklärt oder ihnen dabei hilft zu verstehen, wie Konflikte bewältigt werden können.
"Für mich ist das Geschichtenerzählen eine Art, das Leben anzugehen. Da ich eine Kinderbuchautorin bin, stammen die meisten Geschichten, die ich schreibe und erzähle, aus einer hoffnungsvollen Welt, die wir für diese und die nächste Generation schaffen wollen", erklärt sie.
Eine von Natur aus menschliche Kunst
Chitra Soundar ist überzeugt, dass das Geschichtenerzählen als Kunstform auch im digitalen Zeitalter fortbestehen wird; nur die Mittel, mit denen Geschichten vermittelt würden, hätten sich geändert.
"Animation ist Geschichtenerzählen. Es ist nur eine andere Technologie. Ob wir nun auf TikTok oder Facebook sind oder einen Brief schreiben, wir erzählen immer noch Geschichten. Wir benutzen nur andere Technologien dafür. Ich glaube nicht, dass sich das Geschichtenerzählen ändern wird. Es wird sich den Formaten anzupassen. Die Länge wird sich ändern", sagt Soundar.
Doch das Einzigartige am mündlichen Geschichtenerzählen sei die zwischenmenschliche Verbindung zwischen dem Erzähler und den Zuhörern. Das mündliche Geschichtenerzählen bleibe eine intime Erfahrung, so Soundar - ganz gleich, ob es in einem großen Saal stattfinde, in einer kleinen Gruppe oder sogar bei einer Übernachtungsparty. Selbst Hörbücher könnten da nicht mithalten.
Sie führt ihren Gedanken aus, indem sie beschreibt, wie sie ihre Neffen mit Gute-Nacht-Geschichten verwöhnt: "Wir machen das Licht aus, sind fertig fürs Bett und denken uns in der Dunkelheit eine Geschichte aus. Das ist für mich mündliches Geschichtenerzählen, das kein digitales Werkzeug leisten kann. Weil die Geschichte spontan erfunden wird, weil wir wissen, was die Kinder mögen, weil wir unsere Familie und unsere Kultur mit einbeziehen, wenn wir uns Geschichten ausdenken." Die Menschen würden nie damit aufhören, meint Soundar, die in der Technologiebranche gearbeitet hat, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin und Geschichtenerzählerin wurde.
Bots können nicht an Emotionen rütteln
Und schließlich stellt sich angesichts der künstlichen Intelligenz, die in der Lage ist, Texte - und sogar Geschichten - zu produzieren, die Frage, ob die KI den menschlichen Geschichtenerzählern in absehbarer Zeit den Rang ablaufen könnte. In diesem Zusammenhang taucht häufig ChatGPT auf - ein Prototyp eines Chatbots mit künstlicher Intelligenz, der von der Firma OpenAI entwickelt wurde. ChatGPT wurde im November 2022 veröffentlicht und generiert automatisch Texte, die es aus Daten zieht, die aus Lehrbüchern, Zeitungen, Websites und anderen Artikeln stammen.
Da es sich bei den Antworten von ChatGPT nicht um originäre Schöpfungen des menschlichen Geistes handelt, sind sie nicht urheberrechtlich geschützt. Man kann die Ergebnisse frei verwenden, ohne um Erlaubnis zu bitten oder eine Lizenz zu erwerben. Dennoch kann der generierte Inhalt Stellen enthalten, die durch das Urheberrecht geschützt sind, etwa Texte oder Bilder, die aus anderen Quellen kopiert wurden. Das macht den Chatbot zu einer fragwürdigen Quelle in puncto Kreativität oder Originalität.
"Ein Freund aus dem Silicon Valley hat mir gemailt und mich gefragt: 'Hey, was denkst du über das, was hier passiert?'", erzählt Soundar. "Und ich habe geantwortet: 'Wenn ich als Mensch all diese Dinge plagiieren und eine Geschichte schreiben würde, wäre das ein Plagiat'."
Soundar fügt hinzu, dass diesen Geschichten die Seele fehle. Sie ist der festen Überzeugung, dass Bots nicht in der Lage sein werden, Geschichten so gut zu schreiben wie Menschen. Und sie glaubt, dass es sich um eine "Begeisterung handelt, die kommt und geht". Kürzlich habe sie die Geschichte gelesen von einem Kurzgeschichtenmagazin, das rund 10.000 von Chatbots erstellte Beiträge erhalten habe, die jedoch alle von der Jury abgelehnt worden seien. "Weil sie keinen Sinn ergeben. Sie erreichen deine Gefühle nicht. Sie bringen dich nicht zum Lachen, Weinen und Singen oder dazu, mit ihnen zu interagieren."
Adaption aus dem Englischen: Kristina Reymann-Schneider