Was es mit den Protesten in Russland auf sich hat
18. Januar 2024Das Urteil ist hart: vier Jahre Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen für die Verwendung des Ausdrucks "Kara Khalyk". Der politische Aktivist Fail Alsynow hatte in einer Rede während Umweltprotesten in der russischen Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga damit Migranten aus dem Kaukasus bezeichnet.
Sprachwissenschaftler, die Alsynovs Rede im Auftrag des Gerichts untersuchten, übersetzten "Kara Khalyk" aus dem Baschkirischen, einer Turksprache, als "schwarze Menschen" ins Russische und hielten es für eine negativ gefärbte Bezeichung von Migranten aus Asien. In einer Erklärung betonte Alsynov dagegen, dass die Experten ihn missverstanden hätten. Er habe den Ausdruck im Sinne von "Schwarzarbeitern", also illegal Beschäftigten, verwendet und habe nichts gegen "Vertreter anderer Nationen", wenn diese "unsere Sitten und Gebräuche respektieren und nicht gegen die Gesetze verstoßen".
Die Behörden schätzten den Ausdruck dennoch als beleidigend ein, machten Alsynow Prozess und verurteilten ihn schließlich wegen Anstiftung zu ethnischem Hass.
Ungewohntes Ausmaß zivilen Ungehorsams
Was danach geschah, war untypisch für das Russland unter Wladimir Putin zwei Jahre nach Beginn des Ukraine-Krieges: Mehrere Tausend Menschen zogen im kleinen baschkirischen Städtchen Baimak vor das Gerichtsgebäude und forderten die Freilassung Alsynows. Um die versammelte Menge auseinanderzujagen, setzten die Beamten Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcke ein. Daraufhin warfen die Demonstranten Schneebälle auf die Polizisten. Gegen Mittag folgten erste Festnahmen. Strafverfahren wegen angeblicher Massenaufstände wurden eingeleitet. Höchststrafe: bis zu fünfzehn Jahre Haft.
Gegen Abend war alles vorbei und das Land staunte über das Ausmaß des zivilen Ungehorsams. Denn seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine wurde so gut wie jeder Protest rigoros im Keim erstickt - und zwar, anders als in diesem Fall, mit Erfolg.
Der 37-jährige Fail Alsynow ist der bekannteste politische Aktivist in der Republik Baschkortostan im Ural-Gebirge. Seine vom Gericht scharf kritisierte Rede hielt er während einer Aktion gegen Pläne zum Goldabbau im Dorf Ishmurzino im Bezirk Bajmak im April dieses Jahres. Lokale Aktivisten beschuldigten damals die Regierung, mit Goldminen-Unternehmen zusammenzuarbeiten und warnten vor den Umweltschäden.
Alsynow klagte, dass nach dem Abschluss der Arbeiten Gastarbeiter in alle Welt verschwinden, die Probleme aber in Baschkortostan bleiben würden: "Die Armenier gehen in ihre Heimat, die Kara Khalyk in ihre Heimat, die Russen in ihr Rjasan, die Tataren in ihr Tatarstan", aber die Baschkiren würden nirgendwo hingehen, denn "es gibt kein anderes Zuhause für uns, unser Zuhause ist hier!"
Kritik am Ukraine-Krieg
In derselben Rede kritisierte Alsynow auch Russlands Krieg in der Ukraine: "Was haben wir davon? Was für eine Politik ist das gegenüber unserem Volk? Das verstehe ich nicht." Als Co-Vorsitzender des Vereins "Bashkort" war Alsynow den Behörden schon früher aufgefallen. Sein nicht registrierter nationalistischer Verein setzte sich für die Unabhängigkeit Baschkortostans ein und wurde als extremistisch eingestuft und verboten.
Für das Oberhaupt der Republik Baschkortostan, Radij Khabirow, ist Alsynow deswegen kein Umweltaktivist. Der Politiker besuchte die Stadt Bajmak einen Tag nach den Protesten und erklärte der Bevölkerung: "Man kann sich die Maske eines Öko-Aktivisten und Patrioten aufsetzen. In Wirklichkeit ist die Situation nicht so. Eine Gruppe von Personen, von denen sich einige im Ausland befinden und die im Grunde genommen Verräter sind, rufen von dort aus zur Abspaltung Baschkortostans von Russland auf. Sie rufen hier zum Guerillakrieg auf."
Fail Alsynow als Symbolfigur des Widerstands
Trotzdem bleibt Alsynow für viele in der Region eine Symbolfigur des Widerstands, den die Behörden dieses Mal besonders hart niedergeschlagen haben. Diese Härte ist für die russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann ungewöhnlich. Ihrer Meinung nach hätte die Polizei stattdessen bewährte Taktiken anwenden und die Demonstranten in der Kälte stehen lassen können - und zwar so lange, bis sich die Menge von selbst aufgelöst hätte. Danach hätten die Beamten einzelne Aktivisten zu Hause oder auf ihren Arbeitsstätten aufsuchen können. "Das hilft, das grässliche Bild von prügelnden Polizisten zu vermeiden", stellt Schulmann gegenüber der DW fest.
Die Expertin weist darauf hin, dass auch Proteste in Moskau nach der Inhaftierung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny 2021 auf dieselbe "stille Art und Weise" aufgelöst worden seien. Genauso, sogar noch leiser, hätten die Behörden auch auf die Pogrome am Flughafen Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan im vergangenen Jahr reagiert, als eine Maschine aus Israel von einem Mob angegriffen wurde. Beide Male sei es nach dem Motto gelaufen: "Bloß kein Aufsehen erregen."
Dieses Mal aber entschieden sich die Behörden für "spektakuläre Blendgranaten und Schlachten." Nur zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl sei diese Taktik riskant, unterstreicht Schulmann. Dass die Obrigkeit sie dennoch angewandt habe, erklärt sie mit einer "administrativen Funktionsstörung", bei der verschiedene Teile der Machtapparats nicht im Einklang miteinander agieren: "Die politischen Manager können den Sicherheitskräften nichts sagen, weil diese ihre eigene Machtvertikale haben." Die Polizei untersteht nämlich dem Innenministerium, die Verwaltung ist daher nicht weisungsbefugt. Diese "administrative Funktionsstörung" erhöhe die Risiken für die Staatsführung in Moskau im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, mache sie unpopulärer.
Russlands latentes Nationalitätenproblem
Erschwerend hinzu kommt das Nationalitätenproblem. Wie in Baschkortostan würden sich nationale Minderheiten auch in anderen Republiken von den Russen dominiert fühlen. "Das kommt zu den anderen Missständen in Regionen hinzu, die noch 'im Schlaf' sind, weil das Zentrum noch stark ist. Aber manchmal holen sie eben alles Protestpotenzial heraus und erinnern lautstark daran, dass Moskau sie schon immer beleidigt habe", resümiert Schulmann.
Abbas Galjamow, russischer Politikwissenschaftler mit baschkirischen Wurzeln, stimmt dieser These zu. Er war selbst mehrere Jahre in der regionalen Verwaltung von Baschkortostan tätig. Im DW-Interview sagt Galjamow, die "patriotische" Regierung lege mit der Verfolgung von Aktivisten und der Unterdrückung von Protesten in Wirklichkeit eine Bombe unter das Fundament Russlands: "Zum Zeitpunkt, zu dem es dem Moskauer Regime wirklich schlecht gehen wird, könnte die Last der Beschwerden, die die Menschen vorbringen, nicht mehr zu bewältigen sein."
Gefahr für den Kreml?
Auch Galjamow findet es bemerkenswert, dass es sich um einen Protest einer nationalen Minderheit handelt. Er erinnert daran, wie die gesamte Sowjetunion nach einem ähnlichen Szenario zusammengebrochen ist: Viele Völker, die ihre Unabhängigkeit erklärt hätten, hätten sich damals an die Massendeportationen erinnert, unter denen ihre Vorfahren in der UdSSR gelitten hätten. Und das, obwohl jene Deportationen ein halbes Jahrhundert zurücklagen. "Die nationale Erinnerung lebt lange", sagt Galjamow.
Der russische Politikexperte Dmitrij Oreschkin sieht dagegen keine Gefahr für den Kreml, die speziell aus Baschkortostan ausgehen würde. Gegenüber der DW vermutet er, dass die lokale Regierung die Proteste erfolgreich unterdrücken würde. Es sei zwar neu, dass die Wut sich gegen die lokalen Machthaber richte, die wiederum als Protegés Moskaus gelten würden. Dennoch sei das Protestpotenzial in Baschkortostan gering, weil keine politischen Kräfte dahinter stünden. "Ein Weckruf ist es allemal."