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Wie die Sowjets jüdische Friedhöfe zerstörten

Viktoria Prykhid mo
1. August 2020

In einem Gefängnismuseum in der Ukraine sind 100 jüdische Grabsteine entdeckt worden. Über die Ausgrabungen sprach die DW mit der Historikerin Olha Lidowska.

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Grabsteine, auf denen eine Rose liegt
Diese Grabsteine lagen im Hof des Lonzki-Gefängnisses unter dem Asphalt Bild: SBU

Deutsche Welle: Frau Lidowska, das frühere Lonzki-Gefängnis in Lwiw (Lemberg) ist ein Erinnerungsort für die totalitäre Vergangenheit in der Ukraine. Vor kurzem wurden dort Grabsteine jüdischer Friedhöfe entdeckt. Wie kamen sie unter den asphaltierten Hof des heutigen Museums?

Olha Lidowska: Das kann während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, aber auch in der Sowjetzeit geschehen sein. Denn während der deutschen Besatzung wurden jüdische Friedhöfe abgebaut und mit den Steinen wurden Straßen und Höfe gepflastert. Das setzte sich in Sowjetzeiten fort. So wurde 1947 mit der Entscheidung nur eines sowjetischen Beamten der alte jüdische Friedhof von Lwiw vollständig zerstört und an seiner Stelle der Krakauer Markt errichtet. In der Sowjetunion war es gängige Praxis, auf dem Gelände jüdischer Friedhöfe Märkte einzurichten und Grabsteine als Baumaterial zu verwenden.

Historikerin Olha Lidowska deutet auf eine Mauer mit hebräischer Inschrift
Olha LidowskaBild: Vadym Tader

Schon vor drei Jahren wurden im Zentrum von Lwiw jüdische Grabsteine gefunden. Mit ihnen waren Höfe zwischen Gebäuden gepflastert, aber auch die Treppe eines in der Sowjetzeit erbauten Kesselhauses. Wie oft kommen solche Funde vor?

Vor zwei Jahren wurde bei Reparaturarbeiten an einer Straße entdeckt, dass das Pflaster aus der Zeit der deutschen Besatzung praktisch komplett aus jüdischen Grabsteinen bestand. Die Stadt ließ sie dann entfernen. Laut Berichten waren unter dem Lenin-Denkmal im Zentrum von Lwiw auch jüdische Grabsteine. Aber leider habe ich keine Fotos gefunden, um anhand der Inschriften feststellen zu können, von welchem Friedhof sie kamen. Von Zeit zu Zeit finden wir Elemente von Grabsteinen auch in den neuen Stadtteilen, an ganz unterschiedlichen Orten. Das muss nicht eine vollständig gepflasterte Straße sein, es können auch drei oder vier Grabsteine sein, die möglicherweise von Menschen für wirtschaftliche Zwecke genutzt wurden, ohne dass sie wussten, dass es Grabsteine sind.

Wie wichtig sind die Grabsteine für die Erinnerungskultur?

Das ist Geschichte in Stein gemeißelt. Da stehen das Todesdatum und Angaben zu den Eltern, aber auch, ob die Person prominent war. Zudem ist auf den Grabsteinen die Familienzugehörigkeit eingemeißelt. Faktisch sind sie wie ein Archiv. Man kann an ihnen erkennen, wie die damalige Gemeinschaft funktionierte und wer in ihr welche Aufgaben wahrnahm. Oft sind Grabsteine Kunstwerke. Man muss nur über einen erhaltenen jüdischen Friedhof gehen, um zu sehen, wie unterschiedlich die Grabsteine gestaltet sind.

Jüdische Grabsteine  (SBU)
Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es in Lwiw mehrere jüdische FriedhöfeBild: SBU

Sind in Lwiw und Umgebung noch viele jüdische Friedhöfe erhalten?

In der Region sind noch einige erhalten, aber nicht in Lwiw. Der älteste ist jener jüdische Friedhof, auf dem sich heute der Krakauer Markt befindet. Er wurde in den 1920er Jahren gemäß allen religiösen Regeln restauriert, dabei wurden sogar Gräber aus den Jahren 1335 und 1385 gefunden. Erstmals in Dokumenten erwähnt wurde er im Jahr 1414, als die Juden eine Steuer auf das Grundstück entrichteten. Geschlossen wurde der Friedhof im Jahr 1855. Schon am nächsten Tag eröffneten die damaligen österreichischen Behörden einen neuen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein weiterer jüdischer Friedhof eingerichtet, später noch einer, aber keiner von ihnen ist erhalten geblieben.

Warum hat die jüdische Gemeinde nicht reagiert, als die sowjetischen Behörden begannen, jüdische Friedhöfe und Synagogen zu schließen?

Sie hatten Angst, denn die repressive Maschine ging gegen alle vor. Auch gegen die Juden, vor dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetukraine und dann unter sowjetischen Besatzung im Jahr 1939 auch in Lwiw. Sehr viele Juden haben unter dem Sowjetregime gelitten: Kleinunternehmer, Anwälte oder Journalisten. Es gab aber auch Juden, die sich dem System widersetzten, sich beispielsweise weigerten zu unterschreiben, dass die Synagoge in Lwiw, die 1962 geschlossen wurde, nicht mehr nötig sei. Aber wer hat sich schon für die Juden interessiert? Viele von denen, die den Krieg überlebt hatten, wanderten aus. Vor dem Krieg bestand die jüdische Gemeinde in Lemberg aus fast 100.000 Menschen. Nach dem Krieg meldeten sich nur gut 800. Die Menschen, für die die ganze Stadt zu einem einzigen Grab geworden war, wollten weg: nach Polen, in die USA, später nach Israel.

Gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg Repressionen gegen die Juden in Lwiw?

Ja. Zum Beispiel wurde der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Lew Serebrjanyj, verhaftet, weil die Synagoge für die Juden nicht nur ein religiöser Treffpunkt war. Die Anzahl der Besucher wuchs ständig. Das waren nicht mehr nur Menschen aus Lwiw, sondern auch Juden aus anderen Regionen. Aber offiziell gab es keine Verfolgung der Religion, denn die sowjetische Verfassung "garantierte" Religionsfreiheit -  die Verhaftung erfolgte wegen angeblichen Finanzbetrugs.

Hatte das Sowjetregime Angst vor der jüdischen Gemeinde?

Das Sowjetregime fürchtete jeden Widerspruch. Das galt für Juden, Ukrainer und Russen. Die Machthaber hatten Angst vor Menschen, die sich gegen ihre Regeln stellten. Daher handelten sie im Voraus und versuchten, alle Ansätze, in diesem System etwas ändern zu wollen, zu unterdrücken, noch bevor es zu Unruhen kommen konnte.

Konnten die Mitglieder der Gemeinde nach der Schließung der Synagoge noch Gottesdienste abhalten?

Gottesdienste wurden heimlich abgehalten, in ständig wechselnden Wohnungen, um diejenigen nicht zu gefährden, die sie zur Verfügung stellten. Am Passahfest wurde Mazze (ungesäuertes Brot, Anm. d. Red.) in Kissenbezügen von Haus zu Haus getragen, damit niemand etwas erahnen konnte. Das Gemeindeleben ging im Untergrund weiter. Es leben nicht mehr viele Menschen, die sich an all das erinnern und über diese Zeit berichten können.

Olha Lidowska ist Historikerin und Leiterin des Museums "Auf den Spuren galizischer Juden" der landesweiten ukrainischen jüdischen Wohltätigkeitsstiftung "Hesed-Arieh".

Das Gespräch führte Viktoria Prykhid.