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London aus der Sicht obdachloser Fotografen

Inga Janiulyte / ad24. August 2016

Wie sehen Menschen, die auf der Straße gelebt haben, ihre Stadt? In London erhielten Obdachlose und ehemals Obdachlose Einwegkameras. Von ihren vielen Bildern wurden 13 für den Kalender "MyLondon" 2017 ausgewählt.

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Projekt Cafe Art Graffiti area
Bild: Saffron Saidi

Sie sollten ihre Stadt aus ihrer Sicht einfangen. Das war die Aufgabe für die, die sich auf der Straße durchschlagen müssen und für die einstmals Wohnungslosen. Dafür stattete man sie im vergangenen Monat mit 105 Einwegkameras aus. Das Ergebnis: rund 5000 Fotos kamen zusammen. Davon wurden 20 für eine Ausstellung ausgesucht, 13 schafften es auf die Seiten eines 2017 Kalenders namens "MyLondon".

Das Projekt lief bereits zum vierten Mal. Die Idee dazu hatte die Londoner Initiative "Café Art". Ihr Ziel ist es, Obdachlosen die Gelegenheit zur künstlerischen Betätigung zu geben. So konnten im letzten Jahr 6000 der Kalender verkauft, und mit den Einnahmen ein Fotografiekurs finanziert werden. Der MyLondon-Kalender selbst wird durch Crowdfunding bezahlt. Paul Ryan ist Mitgründer von Café Art und Leiter des Kalenderprojekts.

DW: Das Projekt bringt Obdachlose und Menschen, die eine gewisse Zeit obdachlos waren, mit der Öffentlichkeit in Verbindung. Warum ist das so wichtig?

Paul Ryan: Bei unserem Projekt geht es darum, das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl zu stärken. Wenn die Menschen spüren, dass ihr Dasein wieder einen Sinn hat - zum Beispiel, wenn sie ihre Kunstwerke oder Fotografien ausstellen können - dann erfüllt sie das mit Stolz und sie gewinnen wieder Selbstvertrauen. Sobald sie dieses Vertrauen wiedererlangt haben, merken sie, dass sie noch viel mehr drauf haben, dass sie einen Job bekommen oder eine Suchtbehandlung in Angriff nehmen können. Zweitens kann das Fotografieren Anlass sein, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Beim Verkauf des Kalenders können die Fotografen mit allen möglichen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund reden.

Außerdem richten sich die Teilnehmer an die allgemeine Öffentlichkeit, etwa wenn sie ihre persönlichen Geschichten im Kalender erzählen. Dadurch erfährt die Öffentlichkeit, dass es viele unterschiedliche Obdachlose mit sehr verschiedenen Geschichten gibt.

Paul Ryan und Ray of Light Foto: Paul Ryan
Paul Ryan (rechts) mit Ray of Light, der letztes Jahr am Fotowettbewerb teilnahm und dieses Jahr auf einem Gewinnerfoto abgelichtet wurdeBild: Paul Ryan

Hilft das Thema des Kalenders - MyLondon - auch, diese Verbindung herzustellen?

Natürlich. Der Fotowettbewerb ist offen für alles. Während der Vorbereitung sagen wir den Teilnehmern: "Wie sieht Dein London aus, und was gefällt Dir an London?" Wir empfehlen ihnen nicht, dieses oder jenes zu fotografieren. Sie sind frei, Orte, Leute oder Objekte zu fotografieren, wie es ihnen gefällt. Normalerweise tauchen auf diesen Fotos auch Orte auf, die die Öffentlichkeit für gewöhnlich mag. Jemand kann der Boss eines Unternehmens sein, aber ihm gefällt ein schönes Foto genauso wie einem Obdachlosen. Es berührt die Menschen auf die gleiche Weise. Touristen gefallen wahrscheinlich die gleichen Plätze oder Objekte wie den Obdachlosen.

Letztes Jahr meinte jemand, dass man 100 Kameras an irgendwelche Leute verteilen könnte, und die Fotos wären die gleichen. Das stimmt: Jeder, der diese Fotos schießen kann, kann auch obdachlos werden.

Wir behaupten nicht, diese Leute hätten ein spezielles Talent. Wir sagen nur, dass diese Leute London eben so sehen. Aber wir sagen nicht, dass sie anders sind, nur weil sie obdachlos sind. Es geht darum, an den Geschichten dieser obdachlosen Menschen Anteil zu nehmen. Aber in der Tat könnten einige der Fotos nicht von anderen Personen aufgenommen worden sein - zum Beispiel Fotos von jemandem auf der Straße, der nicht für einen Profi-Fotografen posiert, sondern für jemandem, dem sie vertrauen, der sich in der selben Situation befindet wie sie.

Letztes Jahr wurde ein Foto an den Kensington Gardens in der Nähe des Kensington Palace aufgenommen, während des Sonnenuntergangs. Der Park ist um diese Zeit normalerweise geschlossen, aber dieser Fotograf schlief nachts im Park und konnte deshalb ein Foto machen, das niemand anders hätte machen können.

Nach welchen Kriterien wurden die besten Fotos ausgesucht?

Das wichtigste Kriterium war das Thema, MyLondon. Für alle Fotografen galten die gleichen professionellen Kriterien. Die Mitglieder des Auswahlgremiums kannten weder die Fotografen noch ihre Geschichten. Sichtbar war nur die Nummer des Teilnehmers auf der Rückseite der Fotos.

Gänse beim Sonnenuntergang Foto: Maciek Walorski
Wohl nur ein Obdachloser, der im Kensington Park nächtigt, konnte dieses Foto von Gänsen im Park beim Sonnenuntergang machenBild: Maciek Walorski

Die 20 Fotos für die Ausstellung haben wir vergrößert und im Spitalfields Art Market ausgestellt. Die Besucher konnten abstimmen, welche Fotos ihnen am besten gefielen. Das Bild mit dem Graffiti und dem Hund bekam die meisten Stimmen, und es wird auf der Titelseite des Kalenders veröffentlicht.

Wieviele Obdachlose leben Ihrer Einschätzung nach auf Londons Straßen?

Etwa 2000 Menschen schlafen nachts in den Parks. Es gibt verschiedene Methoden, um die Zahl der Obdachlosen zu ermitteln. Auch Personen, die nicht draußen nächtigen, sondern ohne eigene Adresse von Sofa zu Sofa wechseln, werden als obdachlos bezeichnet. Deshalb kann ich Ihnen keine genaue Zahl nennen.

Sind vergleichbare Projekte auch in anderen Städten durchgeführt worden?

Letztes Jahr haben wir viel Werbung gemacht. Es gab viel Lob und viele Auszeichnungen in vielen Städten rund um den Globus, vor allem in den Vereinigten Staaten. Zur Zeit läuft dort ein Projekt namens MyNewOrleans, das auf eine Initiative von Studenten zurückgeht. Und in Ungarn läuft ein Projekt namens MyBudapest, organisiert von einer Organisation namens Bike Mafia. Das ist eine Gruppe junger Leute, die Sandwiches herstellen und dann durch Budapest radeln, um sie an Obdachlose zu verteilen. Sie wollten ein ähnliches Fotoprojekt machen wie wir, also halfen wir ihnen, mit Fujifilm in Kontakt zu kommen. Die haben dann das Projekt unterstützt, indem sie die Preise für das Ausdrucken von Fotos, und von Kameras, reduzierten.

Letztes Jahr wurde ich nach Brasilien eingeladen, um dort von meinen Erfahrungen zu berichten. Nächstes Jahr wird es in Toronto ein Kalenderprojekt geben. Eine ähnliche Gruppe gibt es in Sydney, Australien, die das Projekt MySydney starten will. Und hoffentlich kommt noch mehr.

In Deutschland haben wir noch kein vergleichbares Projekt, aber ich bin ziemlich sicher, dass eines Tages jemand so etwas organisieren will, denn eine beeindruckende Anzahl von Deutschen unterstützen unser Projekt. Nach den Briten haben sie die meisten unserer Kalender Online gekauft. Das finde ich unglaublich großzügig, weil das Projekt nicht mal in ihrem eigenen Land stattfindet.

Welchen Rat würden Sie Leuten geben, die Obdachlosen helfen wollen?

Organisationen für Obdachlose benötigen freiwillige Helfer. Meine persönliche Erfahrung ist, dass freiwilliges Engagement in kleineren Gruppen viel bewirken kann, und dass man diesen Menschen enorm helfen kann. Wir haben nicht gerade üppige Ressourcen, aber wir können viel erreichen durch die Mitarbeit von qualifizierten Personen, zum Beispiel im Bereich Marketing.

Zweitens sollte man verstehen, wie die Obdachlosen ticken, unter welchen psychischen Krankheiten oder Problemen sie leiden und wie man sie ansprechen kann. Man muss sich dafür qualifizieren, ansonsten bewirkt man nichts. Bevor ich an diesem Projekt mitgearbeitet habe, war ich sieben Jahre bei einer Hilfsorganisation in Kanada tätig. Da habe ich viel über diese Dinge gelernt. Dann erst ging es weiter mit meinen eigenen Projekten.