Wie hängen Trauma und Gewalt zusammen?
28. Juli 2016DW: Frau Schauer, wir haben in Deutschland eine schlimme Woche mit mehreren Anschlägen hinter uns. Bei einigen waren die Täter Flüchtlinge, und psychische Störungen spielten eine Rolle. Wie sehen Sie diese Vorfälle vor dem Hintergrund Ihrer Arbeit?
Maggie Schauer: Diese Vorfälle sind ja sehr unterschiedlich. Aber eine Gemeinsamkeit ist, dass alle Täter psychisch sehr belastet waren. Menschen sind im allgemeinen immer dann in Gefahr, aggressiv zu reagieren, wenn sie selbst Gewalt erlebt haben und wenn sie dann in dem Rahmen, in dem sie leben, nicht die soziale Anerkennung finden. Dazu kommt, gewaltsame Taten brauchen eine Rechtfertigung, eine Legimitation. In vielen Bürgerkriegssituationen spielt es zum Beispiel eine Rolle, dass man andere entmenschlicht, dass ich sage, das sind gar keine Menschen. Oder ich sage, ich habe ein Motiv, dass andere ausgelöscht werden müssen. Um ein Potential für Gewalttaten zu entwickeln, müssen aber immer mehrere Faktoren zusammenkommen.
Wie groß ist das Potential bei traumatisierten Flüchtlingen, nicht unbedingt, dass sie gewalttätig werden, aber dass sie jedenfalls ihr Leben nicht mehr im Griff haben?
Wenn ich Traumata erlebe, habe ich in der Regel keine "Gewaltstörung", sondern eine Angststörung. Das heißt, ich bin nicht aggressiv, sondern ich habe selbst ständig Angst vor der Aggression der anderen. Ich fühle mich dann ständig bedroht. Manche möchten oder können mit dieser Angst dann nicht weiter leben und werden suizidal.
Das bedeutet, nur ein kleiner Teil von ihnen neigt selbst zur Gewalt?
Genau, denn es muss eine Reihe von Unglücksfaktoren hinzukommen. Diejenigen, die selbst mehrfach Gewalt erlebt haben in der Kindheit im Elternhaus, am schlimmsten durch Bindungspersonen, oder zum Beispiel erlebt haben, dass die Mutter regelmäßig misshandelt wird. Das reicht aber noch nicht aus. Dann kommt oft eine Depression dazu. Depressive Leute sind eigentlich eher passiv und ziehen sich zurück, es sind also eigentlich keine Täter. Aber es gibt eine Kombination von schrecklichen Ereignissen in der Kindheit, kombiniert mit sozialem Druck in der Gegenwart, die dazu führt, dass ich eine solche Persönlichkeitsveränderung durchmache, so dass ich das aggressiv ausagiere.
Wie versuchen sie, traumatisierten Flüchtlingen zu helfen?
Wir arbeiten die belastenden Vorgänge in der Vergangenheit therapeutisch auf, die in der Lebensgeschichte, der Entwicklung eine Rolle gespielt haben. Dabei sind auch korrigierende Beziehungserfahrungen wesentlich: Der Mensch soll einen Beziehungsraum erleben, der nicht gewalttätig ist, wo seine Gefühle ernst genommen werden, wo er lernt, dies spüren zu dürfen, ohne Angst oder Wut zu bekommen. Die meisten Menschen mit komplexer Traumafolgenstörung stehen innerlich unter hohem Druck und bekämpfen diese innere Anspannung mit Alkohol, anderen Drogen oder mit selbstverletzendem Verhalten.
Sehen Sie Ihre Arbeit als Teil, vielleicht sogar als Voraussetzung von Integrationsarbeit?
Ja, sicher. Traumatisierte Menschen haben natürlich viele Leidensprobleme, sie sind ein Stück weit dysfunktional aufgrund ihrer Krankheit - sie können also beruflich und sozial nicht so gut funktionieren. Viele, die zu uns kommen, stammen aus Herkunftsländern, in denen Gewalt eine Rolle spielt, wo auch die Flucht noch einmal traumatisierend war. Und gerade für Männer ist die Ankunft hier problematisch, weil sie hier keinen Status haben. Sie haben nicht die Ausbildung und das Geld, um hier als Mann Eindruck machen zu können. Das spielt eine ganz große Rolle. Wir müssen diesen Leuten, die so belastet sind und keine soziale Anerkennung erreichen, unbedingt helfen, Wege in die Gesellschaft zu finden. Zusätzlich müssen wir sehen, dass sie unsere sozialen Regeln und Gesetze verinnerlichen, die sich ja oft deutlich unterscheiden vom Herkunftsland, also eine zweite Sozialisation ermöglichen, und, genauso wichtig, keine radikale Rechtfertigung zulassen. Hier müssen auch die jeweiligen religiösen Führer klare Stellung beziehen.
Verhindert die Vorstellung von Männlichkeit in den Herkunftsstaaten nicht auch, dass solche Männer überhaupt Hilfe suchen?
Ja. Traumatisierte ziehen sich generell eher zurück, weil sie vermeiden. Vermeiden ist ein Hauptkriterium für Traumadiagnosen. Sie haben nicht nur Schreckliches erlebt, sondern zum Kern ihrer Symptomatik gehört, nicht darüber zu reden, zu verdrängen, und eher zu einem Suchtmittel zu greifen, als da heranzugehen. Drogen aber wirken sich verschärfend aus auf den Teufelskreis der Gewalt. Wir bekommen die Traumaüberlebenden zum Beispiel über Ehrenamtliche vermittelt oder Amnesty International nach Folter oder schweren Übergriffen, aber oft wissen die Betroffenen nicht, dass es für ihr Problem einen Namen gibt und eine Möglichkeit, Erleichterung finden zu können. In manchen Kulturen sind psychische Krankheiten auch sehr beschämend. Man will nicht stigmatisiert werden, was wieder eine Erniedrigung darstellt. Respektiert zu werden und Würde wiederzuerlangen sind zentral.
Aus allem, was Sie gesagt haben, kann man nur schließen, dass da noch einiges an Problemen auf uns zukommt.
So, wie das Gesundheitssystem momentan aufgestellt ist, können wir diese Aufgabe nicht wirklich bewältigen. Wir müssen unbedingt - was die WHO auch in anderen Ländern empfiehlt, wo das Gesundheitssystem überlastet ist - ein task shifting einleiten. Das heißt, mehr Personen zu rekutrieren, die bisher nicht im Gesundheitsbereich tätig sind. Auf unterster Ebene Helfer anzulernen, wenn möglich, auch aus dem Kreis der erwachsenen Migranten und Geflüchteten, die erkennen können, wer starken Leidensdruck und Ängste hat, wer stark unruhig ist und zu Aggressionen neigt. Von da aus kann es dann eine Zuweisung in Angebote eines erweiterten Versogungssystems geben. Wir müssen das systematischer angehen, bis dahin fallen viele durch die Ritzen.
Die Konstanzer Psychologin Dr. Maggie Schauer ist Traumaexpertin und hilft in der Psychotherapieambulanz der Universität Konstanz traumatisierten Flüchtlingen.
Das Gespräch führte Christoph Hasselbach.