Wo die DDR noch lebt
19. September 2017Die Gegend um den Obersee ist ein Idyll. Kaum zu glauben, aber diese ruhige, grüne Oase liegt mitten im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen, der für seine seelenlosen Plattenbauten berüchtigt ist. Gesine Lötzsch hat hierhin eingeladen zu einer Literaturlesung. Die Autorin Katharina Peters liest aus ihrem Kriminalroman. Gut zwei Dutzend Interessierte sitzen hier im Schatten und lauschen. Ein bisschen Kultur in den Kiez bringen, das sieht Gesine Lötzsch als eine ihrer Aufgaben, aber in erster Linie geht es ihr um Politik.
Die 56-Jährige bewirbt sich zum fünften Mal für ein Bundestagsmandat. Seit 2002 hat sie ihren Wahlkreis immer direkt geholt. Sie und ihre Genossin Petra Pau, die ihren Bundestagssitz im benachbarten Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf auch regelmäßig ohne Umweg über die Landesliste gewinnt, sind so eine Art Vorzeige-Sozialistinnen. Trotzdem sagt die haushohe Favoritin Lötzsch, dass "sie um jede Stimme kämpfen muss" und dass auch die traditionellen Sozialisten "längst nicht automatisch Die Linke wählen".
Treue gegenüber dem alten Regime ist von Vorteil
Lötzsch ist eine sympathische Frau, nicht polternd, nicht aufdringlich, nahbar. Dass sie ihre politische Karriere Mitte der 1980er-Jahre in der SED begann, stört hier niemanden. Im Gegenteil: Sie ist eine von ihnen. Viele, die in den Plattenbauten in Lichtenberg-Hohenschönhausen, Marzahn-Hellersdorf und Pankow leben, haben früher linientreu für die DDR-Regierung gearbeitet - als Beamte, Polizisten, Grenzer, Diplomaten - und für die Stasi. Die wählen traditionell die Linke, so wie sie immer die SED und die PDS gewählt haben. Deshalb regiert die Linke selbstverständlich im Land Berlin mit. Und deshalb stellt die Partei auch die Bürgermeister in den drei genannten Bezirken im Osten Berlins. Michael Grunst zum Beispiel, er wurde zum Bürgermeister von Lichtenberg gewählt, obwohl bekannt war, dass er an der Offiziersschule der DDR-Grenztruppen war. So etwas ist nur im Osten Berlins geräuschlos möglich, hier in der ehemaligen Hauptstadt der ehemaligen DDR.
Stasi-Museum als Stachel im Fleisch der DDR-Fans
Gesine Lötzschs Nemesis heißt Hubertus Knabe. Er residiert nur ein paar Blocks entfernt, leitet die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hier hat die Stasi bis zur Wende ein Untersuchungsgefängnis für politische Gefangene betrieben, ein paar Blocks weiter war die Stasi-Zentrale. Knabe ist ein erklärter Gegner der Linkspartei. Er wirft ihr vor, nie glaubhaft ihre Vergangenheit in der DDR-Diktatur aufgearbeitet zu haben. Im Gegenteil: "Sie versucht sich ihre Klientel, die hier lebt, gefällig zu halten." Knabe wirft Gesine Lötzsch konkret vor, dass sie sich als "Heldin" von Stasi-Veteranenverbänden feiern lasse, dafür, "dass sie sich zum Beispiel für die Aufstockung ihrer Renten einsetzt".
Tatsächlich wohnen viele ehemalige Stasi-Mitarbeiter noch heute in unmittelbarer Nähe ihrer alten Wirkungsstätte. In ihren Stammkneipen, sagt Knabe, "verhöhnen sie die damaligen Opfer als Kriminelle". Hubertus Knabe sehen sie als Stachel im Fleisch ihrer "kleinen DDR".
Der CDU-Kandidat ist chancenlos
Lötzschs aktueller politischer Widersacher ist Martin Pätzold von der CDU. Er verteilt heute Flyer und Kulis mit CDU-Emblem an die Passanten vor einem Einkaufszentrum in Hohenschönhausen. Er hat keine Chance gegen Lötzsch, aber die will er nutzen. Er ist 33 Jahre jung, offen und optimistisch. Ein Junge aus dem Kiez, sein Vater hat in der DDR als Journalist Karriere gemacht. Eine solche Biografie kann nicht schaden. Nur einige Vietnamesen, Russlanddeutsche, Asylbewerber und ein paar Studenten wohnen hier, ansonsten sind die "Ossis" hier noch unter sich.
Pätzolds Gesprächsversuche werden von den eiligen Passanten meist im Keim erstickt. Er sagt, ihm sei wichtig, "dass man die Biografie und die Lebensleistung der Leute anerkennt und wertschätzt". Nur so, das weiß Pätzold, kann man im Osten Berlins einen politischen Blumentopf gewinnen.
Für ihn wird es am 24. September wohl wieder nur für eine Primel reichen. Gesine Lötzsch und die Linkspartei sind hier nicht zu schlagen. Hier, wo die DDR, so scheint es, noch nicht untergegangen ist.