Wolfgang Rihm zum 70.
13. März 2022Eine Komposition sei ein neues Kunstgebilde, wie eine Skulptur, schrieb Wolfgang Rihm einmal in einem Essay: "Ich bin ein Bildhauer, der das Material in die Hand nimmt und es zum Leben bringen muss."
Einer, der Rihms Material ebenfalls schon zum Leben gebracht hat, ist der russische Dirigent Valerj Gergiev. Dieser verlor kürzlich seinen Job als Chef der Münchner Philharmoniker, weil er sich nicht öffentlich von dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert hatte. Rihm, der nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, nannte das in der "Süddeutschen Zeitung" "Gesinnungsdruck".
Es sei ein allgemein menschliches Bedürfnis, "dass man möchte, dass der, mit dem man zusammenarbeitet, nicht auf der falschen Seite ist", sagt Rihm. "Trotzdem: Das Unter-Druck-Setzen ist etwas, das man gerade an repressiven Systemen kritisiert. Plötzlich verhält man sich genauso."
Schüler von Stockhausen
Am 13. März 1952 in Karlsruhe in Baden-Württemberg geboren, schrieb Rihm bereits als Elfjähriger erste Stücke. Während er das Gymnasium besuchte, studierte er gleichzeitig Komposition bei Eugen Werner Velte. 1972 machte er sein Abitur und legte sein Staatsexamen in Komposition und Musiktheorie ab.
Danach studierte Rihm beim Pionier der elektronischen Musik, Karlheinz Stockhausen, in Köln. Der übergab ihm einmal einen Zettel, der jahrzehntelang über seinem Schreibtisch hing. Darauf stand die Botschaft: "Lieber Wolfgang Rihm, bitte folgen Sie ganz Ihrer eigenen Stimme. Ihr Karlheinz Stockhausen."
Genau das tat Rihm. 1974 folgte sein Durchbruch bei den Donaueschinger Musiktagen mit der Uraufführung des Orchesterstückes "Morphonie". Im selben Jahr erhielt er dafür den Kompositionspreis der Stadt Stuttgart. Das kontrovers diskutierte Werk wurde zur "Legende", wie die Musikjournalistin Eleonore Büning in ihrem gerade erschienenen Buch "Wolfgang Rihm - Über die Linie" schreibt. Nachdem er an der Musikhochschule in München Komposition unterrichtet hatte, übernahm er 1985 schließlich die Kompositions-Professur seines Lehrers Velte in Karlsruhe.
"Ich folge meinem Instinkt"
"Ich bin niemand, der sich erst etwas zurechtlegt und dann 'das Richtige' tut, sondern ich folge meinem Instinkt in sehr vielen Dingen. Dass mein technisches Vermögen dem zu folgen in der Lage ist, das ist, möchte ich einmal sagen, eine Gnade, vielleicht das, was man mit Begabung bezeichnen kann", sagt Rihm in einer Dokumentation des Südwestrundfunks (SWR) über sich selbst.
Heute zählt sein Werk mehr als 500 Musikstücke. Darunter sind Opern und große Orchesterwerke, Kammermusik für Violine und Klavier, Konzerte für Trompete, Horn und Cello sowie Vokalstücke.
Eine herausgehobene Stellung nimmt in Rihms Œuvre das Musiktheater ein, mit Werken wie "Jakob Lenz", "Hamletmaschine", "Dionysos" oder "Die Eroberung von Mexico". Er gilt als einer der produktivsten Komponisten überhaupt.
Rihm jongliert auch mit Literatur und Sprache und nutzt sie für sein Schaffen. In zahlreichen Werken arbeitet er mit literarischem Material verschiedenster Autoren, etwa Friedrich Hölderlin, Else Lasker-Schüler oder Johann Wolfgang von Goethe.
Kämpfen für die Arbeit
Wolfgang Rihm ist auch Autor mehrerer Bücher und Mitglied in verschiedenen Gremien; seit 1989 auch im Aufsichtsrat der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA). Seit 2016 wirkt er zudem als künstlerischer Leiter der Lucerne Festival Academy und bietet dort jeden Sommer ein Kompositions-Seminar an. Für die Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie 2017 schrieb Rihm eine Auftragskomposition.
Es sei nicht nur ein Segen, so stark beschäftigt zu sein, sagte Rihm 2015 im DW-Interview: "Mittlerweile kämpfe ich um jede freie Minute, arbeiten zu können. Dinge, die nicht zentral wichtig sind, nehmen mir die Kraft, und die brauche ich zum Arbeiten."
Für sein Werk wurde der Komponist vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Rolf-Liebermann-Preis, dem Preis der Europäischen Kirchenmusik und dem Stiftungspreis der ökumenischen Stiftung Bibel und Kultur. Die GEMA verlieh ihm für sein Lebenswerk den Deutschen Musikautorenpreis. Außerdem erhielt Rihm das Bundesverdienstkreuz. Buchstäblich jeden Tag wird irgendwo auf der Welt eines seiner Werke gespielt.
"Gelähmt" durch die Corona-Pandemie
Dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte Rihm, die Corona-Pandemie habe ihn "gelähmt"; seine Arbeitsintensität sei eingeschränkt, weil die "Echo-Räume" weggebrochen seien. "Ton-Konserven" seien keine Alternative. Sie transportierten nur ein Gerücht von der Sache: "Musik ist nur dann etwas Wirkliches, wenn sie gemacht und vernommen werden kann."
Seit vielen Jahren kämpft Rihm zudem mit einer Krebserkrankung. Die Begegnung mit der eigenen Endlichkeit sei Rihm jedoch "seit frühester Jugend nichts Fremdes". Musik sei ja selbst "ein Phänomen, das vergeht. Jeder Ton vergeht. Jeder Mensch, der Musik schafft, geht mit dem Tod um, der zum Leben gehört."
Für Rihm ist alles Musik, und "Musik ist Leben". Seinen 70. Geburtstag will der Vater von zwei Kindern im Familienkreis und mit einigen wenigen Freunden begehen. Zu Ehren des Komponisten sind rund um seinen Geburtstag Konzerte geplant, beispielsweise führen das SWR-Sinfonieorchester in Freiburg und Karlsruhe Ensemblewerke des Komponisten auf.
pj/suc (mit dpa/epd/kna)