"Zerfallene Zivilgesellschaft" in Hongkong
31. Mai 2024Ein Gericht in Hongkong hat 14 Demokratieaktivisten im bislang größten Prozess rund um das sogenannte Staatssicherheitsgesetz schuldig gesprochen. Zwei weitere Angeklagte wurden freigesprochen. Die 16 Männer und Frauen waren gemeinsam mit 31 weiteren Aktivisten wegen Verschwörung zur Unterwanderung der Staatsgewalt angeklagt. Die übrigen hatten sich bereits vor Beginn des Prozesses schuldig bekannt.
Beobachter hatten die Schuldsprüche seit Langem erwartet. "Das Ergebnis zeigt, dass die Hongkonger Regierung die Aktivitäten vieler Bürger in Hongkong als Straftat einer Verschwörung oder Beeinflussung durch ausländische Kräfte betrachtet", sagt eine ehemalige Bezirksrätin der DW. Aus Sicherheitsgründen will sie ihren Namen nicht nennen.
"Abschreckende Wirkung"
Bereits jetzt habe der Prozess auf die gesamte Hongkonger Zivilgesellschaft eine abschreckende Wirkung, so die Bezirksrätin weiter. Die meisten Menschen verzichteten auf politische Aktivitäten. "Diese Atmosphäre zwingt viele Hongkonger dazu, sich von öffentlichen Themen fernzuhalten", sagt sie der DW.
47 Aktivisten waren im Jahr 2021 wegen "Verschwörung zur Subversion" angeklagt worden. Die Anklage stützt sich auf ein umstrittenes "Gesetz zur nationalen Sicherheit", das die Pekinger Zentralregierung im Juli 2020 über die ehemalige britische Kolonie verhängt hatte, um abweichende Meinungen zu unterbinden.
Die meisten Angeklagten befinden sich seither in Haft. 31 von ihnen hatten sich vor der Gerichtsverhandlung am Donnerstag (30.05.) schuldig bekannt. Die anderen 16 hatten während des gesamten Prozesses ihre Unschuld beteuert.
Der Ausgang des größten Prozesses gegen pro-demokratische Aktivisten seit der Einführung des Gesetzes über die nationale Sicherheit zeigt zudem, in welchem Ausmaß die Behörden gegen die kritischen Meinungen und Aktivitäten in Hongkong vorgehen.
Politischer Prozess
Die gegen die pro-demokratischen Aktivisten erhobenen Anklagen seien der "schamlose Versuch" der Regierung, die gesamte demokratische Opposition zu inhaftieren, sagt der amerikanische Menschenrechtsanwalt Samuel Bickett. Er selbst saß in Hongkong vier Monate lang in Haft, nachdem er während der monatelangen Massenproteste gegen die Regierung 2019 eine Auseinandersetzung mit einem Polizisten hatte.
"Die gesamte demokratische Opposition kam nur deswegen in Haft, weil sie sich für die Demokratie engagierte. Der Fall lässt erkennen, dass auch alle weiteren Prozesse um das Sicherheitsgesetz zu Verurteilungen und hohen Strafen führen werden", so Bickett zur DW.
Nach Ansicht von Kritikern ist der sich seit über drei Jahren hinziehende Gerichtsprozess politisch motiviert. Das Gericht in Hongkong erklärt hingegen, die Angeklagten in der Opposition hätten versucht, eine politische Mehrheit im Stadtparlament zu erlangen, um das Haushaltsgesetz der prochinesischen Regierung zu blockieren. Das wiederum hätte zur Auflösung des Stadtparlaments führen können.
Nach der Urteilsverkündung erklärten die Richter Andrew Chan, Alex Lee und Johnny Chan in einer Mitteilung, die 14 am Donnerstag für schuldig befundenen Angeklagten hätten geplant, "die Macht und Autorität sowohl der Regierung als auch des Verwaltungschefs zu untergraben. Unserer Ansicht nach würde dies zu einer Verfassungskrise in Hongkong führen."
Sind die Urteile ein Präzedenzfall?
Für einige Experten stellt das Urteil einen weiteren Rückschlag der lebhaften öffentlichen Debattenkultur im politischen Leben in Hongkong dar. "Der Richterspruch zementiert die Illegalität friedlicher Proteste in der Stadt und setzt sie mit dem Versuch gleich, die Autorität des Staates zu untergraben", sagt Maggie Shum, Politikwissenschaftlerin am Behrend-College der Pennsylvania State University in den USA. Das Gericht habe einen Präzedenzfall für den Umgang mit anderen friedlichen Formen des Protests und des Andersdenkens geschaffen.
"Die Auslegung der Richter setzt einen Rahmen dafür, wie die Staatsgewalt im Rahmen des Gesetzes über die nationale Sicherheit zu verstehen ist und wie weit man in dessen Anwendung gehen wird, um alle Formen des Dissenses als Subversion der Staatsgewalt zu kriminalisieren", so Shum im Interview mit der DW.
Die 47 Angeklagten repräsentierten weite Teile der Hongkonger Zivilgesellschaft, so Menschenrechtsanwalt Bickett. Mit dem Urteil mache die Hongkonger Regierung den Bürgern klar, dass sie sich an die von ihnen vorgegebene Linie halten würden.
"Sowohl die Zivilgesellschaft wie auch die Politik sollen dieser Linie folgen. Ihre Botschaft: 'Wer auch nur etwas von dieser Linie abweicht, wird die Regierung gegen ihn vorgehen!'", umreißt Bickett die Bedeutung des Urteils.
Zerfallene Zivilgesellschaft
Die pro-demokratische Zivilgesellschaft Hongkongs sei zerstört worden, so Bickett. "Wir werden erleben, dass Peking irgendwann auch gegen Menschen vorgehen wird, die zwar nominell zu seinen Befürwortern gehören, gleichzeitig aber für Mäßigung plädiert oder vorgeschlagen haben, die Unabhängigkeit der Gerichte zu schützen oder zumindest für einen Hauch von Demokratie zu sorgen."
Das sich in Hongkong abzeichnende Muster ähnele jenen, die man aus anderen autokratischen Ländern kenne. "Wir gehen davon aus, dass diese Entwicklung auch in Hongkong eintreten wird. Die Zivilgesellschaft darf hier nicht mehr existieren", sagt Bickett.
Neben der Zerschlagung der Hongkonger Zivilgesellschaft bereiteten sich die Hongkonger Behörden womöglich auch darauf vor, die Diaspora-Gemeinschaft Hongkongs ins Visier zu nehmen, vermutet die Politikwissenschaftlerin Maggie Shum. "Das Urteil verstärkt den Zerfall der politischen Gesellschaft Hongkongs innerhalb und außerhalb der Stadt."
Nun droht den 14 Angeklagten und den 31 Personen, die sich bereits vor der Verhandlung am Donnerstag schuldig bekannt hatten, eine lebenslange Haftstrafe. Das Strafmaß wird im Laufe des Jahres verkündet. Gegen die zwei Freisprüche will die Staatsanwaltschaft in Hongkong Berufung einlegen.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp