Île du Levant - Nackte und Kanonen
25. August 2022Es ist 10:40 Uhr am Hafen, die Fähre zurück zum Festland wird bald abfahren. Die Passagiere versammeln sich am Anleger und warten darauf, an Bord zu gehen. "Ah! Sie haben sich angezogen. Wie seltsam", sagt ein Mann zu einer Frau, die neben ihm steht. "Ja, ich weiß. Ich habe bis zum allerletzten Moment gewartet", lacht sie.
Willkommen auf der Île du Levant - einer kleinen Insel etwa 15 Kilometer vor der französischen Mittelmeerküste, südlich der Provence. Seit mehr als 70 Jahren existieren hier zwei äußerst unterschiedliche Gemeinschaften nebeneinander.
Etwa ein Zehntel der zehn Quadratkilometer großen Fläche gehört zu Heliopolis, einem kleinen, 1932 gegründeten FKK-Resort mit rund 250 Eigentümern. Die restlichen 90 Prozent sind militärisches Sperrgebiet, in dem sich seit 1948 auch ein Raketentestzentrum befindet.
Ungewöhnliche Nachbarschaft
Beim Spaziergang zwischen entspannten, nackten Urlaubern vergisst man leicht den anderen Teil der Insel. Doch der Weg zum Strand wird auf einer Seite von einem Stacheldrahtzaun flankiert; Schilder mit der Aufschrift "Militärische Zone. Betreten verboten" sprechen eine deutliche Sprache.
Das Leben jenseits der Zäune hat wenig mit Urlaub und Entspannung zu tun. Während sich die Zivilisten nackt am Strand sonnen oder durch die Natur spazieren, finden im Militärgebiet Tests statt; Schulungen und Trainings für die Streitkräfte werden durchgeführt.
Allein in diesem Jahr werden insgesamt etwa 70 Test- oder Trainingseinheiten erwartet, sagte ein Sprecher der französischen Armee der DW. Etwa 225 Soldaten halten sich montags bis donnerstags auf der Insel auf. Auch italienische und deutsche Truppen kommen zu Trainingszwecken dorthin.
Die bewaffnete Nachbarschaft stört den 71-jährigen Guido kaum. Wir treffen ihn auf der Terrasse seines Ferienhauses mit Blick aufs Meer. Wenn man auf der Insel lebe, denke man nicht wirklich darüber nach, meint der Schweizer Rentner, der die Hälfte des Jahres hier verbringt. "Wir haben fast nichts mit dem Militär zu tun". Es komme kaum zu Zusammentreffen, allerdings leiste das Sanitätspersonal vor Ort bei Bedarf medizinische Notversorgung. Und manchmal, räumt Guido ein, höre er Militärübungen - Munition, die abgefeuert wird. "Immer dienstags gibt es ein bisschen Lärm."
Leben ohne Kleidung
Lieber erzählt Guido davon, wie er und seine Frau Sylvia, 69, "in Freiheit ohne Kleider leben". Das Paar kommt seit 1990, oft mit seinen drei Kindern, hierher. 2003 kauften sie ihr Haus.
Dieses Mal haben sie zwei Enkelkinder im Schlepptau. Als ganze Familie nackt zu sein, "ist einfach keine große Sache", sagt Guido, der dieses Leben genießt. Einen kleinen Wermutstropfen gibt es: Einige Verwandte haben eine Einladung zum Besuch abgelehnt. "Vor allem die Männer", fügt er hinzu.
Dabei hat die FKK-Kultur, auch Nudismus oder Naturismus, nichts mit Sex zu tun. Das betont Guido, der in seinem Berufsleben für die Reaktorsicherheit in einem Kernkraftwerk zuständig war, auch immer wieder. Und mehr noch: Öffentlicher Sex ist auf der Insel streng verboten. Nacktheit ist an den Stränden und auf den Wanderwegen die Regel, und in bestimmten Restaurants und Geschäften, von denen es nur eine Handvoll gibt, ist sie erlaubt. Im Hafen ist minimale Bedeckung vorgeschrieben. Die Insel ist ruhig, es gibt keine Autos. Elektrizität gibt es erst seit 1989.
Am Hafen sitzt ein französisches Paar, Delphine und François. Sie lieben die Ruhe und die natürliche Schönheit. Für sie gehe es bei der Freikörperkultur nicht um Exhibitionismus, sagen sie. "Eigentlich ist es komisch, aber wenn man keine Kleidung trägt, schaut man sich nicht gegenseitig an. Man schaut nicht darauf, ob eine Person groß oder klein oder was auch immer ist. Alle sind gleich. Es ist entspannt", sagt Delphine, eine 57-jährige Zahnarzthelferin.
Erholung von der Zivilisation
Die naturistische Bewegung entstand in Deutschland im späten 19. Jahrhundert - zum Teil als Reaktion auf die Industrialisierung und Verstädterung. Bald verbreitete sie sich auch in Frankreich und anderen Ländern. Die ersten Befürworter betonten die gesundheitlichen Vorteile von Bewegung im Freien, gesunder, oft vegetarischer Ernährung und einer Rückkehr zur Natur - daher auch der Begriff "Freikörperkultur" oder kurz "FKK".
Als die Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts an Fahrt aufnahm, kauften zwei Brüder - die Ärzte und Naturheilkundler Andre und Gaston Durville - einen Teil der Île du Levant von einer Immobiliengesellschaft und gründeten 1932 Heliopolis als "internationales Naturistenzentrum".
Die Brüder wollten - so steht es in den Gründungsdokumenten des Vereins Heliopolis - "eine einfache, rustikale Stadt errichten, in der Liebhaber von frischer Luft und Sonne die Ruhe der herrlichen Natur genießen und sich von den Strapazen der künstlichen Zivilisation der Städte erholen können, indem sie ihren Urlaub einfach und gesund verbringen." Frühe Fotos zeigen den sportlichen Gaston Durville bei der harten Arbeit auf dem Bau.
Heutzutage kommen die Leute, um sich zu entspannen, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Der traditionelle Schönheitswettbewerb "Miss Île du Levant" wurde in diesem Jahr zum ersten Mal von einer Transfrau gewonnen, berichtet die Lokalzeitung "Var-Matin".
Der Naturismus braucht Nachwuchs
Der französische Naturismus erlebte seine Blütezeit in den 1960er und 70er Jahren, so der französische Naturismusverband (FFN): "Die Lockerung der gesellschaftlichen Sitten, die Emanzipation der Frauen und die Einführung des bezahlten Jahresurlaubs ermöglichten es dem Naturismus, sich als neue Lebens- und Urlaubsphilosophie zu etablieren". Frankreich sei nach wie vor ein wichtiges internationales Reiseziel für Naturisten mit 350 FKK-Zentren, so der Verband.
Die Bewegung kämpfte allerdings lange Jahre mit einer alternden Fangemeinde. Der Umschwung kam mit Werbekampagnen und dem zunehmenden gesellschaftlichen Interesse an einer gesunden Lebensweise. Dies habe laut FFN in den letzten Jahren dazu beigetragen, eine jüngere Bevölkerungsgruppe zu gewinnen.
"In den letzten zehn Jahren sind die FKK-Gäste jünger geworden", sagte der Präsident der Föderation der FKK-Campingplätze (FEN), Jean-Guy Amat, im Juli dem TV-Sender RTL. Die Pandemie habe auch dazu geführt, dass die Franzosen nicht mehr ins Ausland reisen, was neue Besucher auf die FKK-Campingplätze gebracht habe, so Amat.
Und tatsächlich: Am Tag unseres Besuchs auf der Île du Levant im August war der touristische Teil der Insel voll. Zur nächsten Generation von FKK-Fans gehören die Passagiere der Fähre, die um 10.40 Uhr abfährt: Es sind hauptsächlich jüngere Leute. Diejenigen, die in der Bucht zurückbleiben, jubeln und winken dem Schiff hinterher. Auf dem Oberdeck werden die Badehosen ausgezogen und fröhlich über den Köpfen geschwungen - vielleicht ein gutes Omen für die Zukunft der Bewegung.