Ein Video mit dramatischen Folgen
21. Mai 2019Innerhalb von nur einem einzigen Wochenende hat sich die innenpolitische Situation in Österreich grundlegend geändert: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) beendete die Koalition mit der rechtsnationalen Freiheitlichen Partei (FPÖ), mit der er seit Ende 2017 regiert hatte. Im September wird es Neuwahlen geben.
Anlass dafür war eine politische Bombe in Form eines Videofilms, den am Freitagabend die "Süddeutsche Zeitung" und "Der Spiegel" zeitgleich ins Internet gestellt hatten. In einer Villa auf Ibiza wurden im Juli 2017 mit versteckten Kameras FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, später Vizekanzler der Republik, und der damalige Wiener FPÖ-Vizebürgermeister Johann Gudenus, später Fraktionschef im österreichischen Parlament (Nationalrat), gefilmt. Wer die Falle gestellt hat, ist bislang unbekannt.
Arrogant und korrupt
Die beiden Politiker sprachen mit einer vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen über mögliche millionenschwere Investitionen in Österreich, verdeckte Parteispenden, den Kauf der größten Tageszeitung Österreichs und wie sich die FPÖ mit Staatsaufträgen bei der Russin mit lettischem Pass für die Unterstützung revanchieren würde.
Mehrere Stunden dauerte der Abend, an dem auch reichlich Wodka gemischt mit Energy-Drinks floss. Nach der Veröffentlichung des Videos traten FPÖ-Chef Strache und sein Freund Gudenus von allen politischen Ämtern zurück.
Die heimlich aufgezeichneten Gespräche entlarven die beiden Politiker als arrogante und korrupte Politiker, die für erhoffte russische Geldspenden zu allen möglichen, auch illegalen, Handlungen bereit waren. Drei Monate später fanden die Wahlen zum Nationalrat statt - danach ging die ÖVP als stimmenstärkste Partei mit der FPÖ eine Koalition ein.
Der heute 32-jährige Bundeskanzler Sebastian Kurz hatte tiefgreifende Reformen des Staates versprochen. So wurde als Prestigevorhaben die Fusion von bisher 21 Sozialversicherungsträgern in fünf beschlossen. Erst vor drei Wochen wurde eine Steuerreform präsentiert, die in zwei Etappen ab 2020 die Lohn- und Einkommenssteuern senken sollte.
Die FPÖ und ihre Probleme mit Geschichtsaufarbeitung
Die FPÖ setzte in ihren Ressorts, darunter die Ministerien für Äußeres, Inneres, Verteidigung, Infrastruktur und Soziales, Parteigänger auf hohe Posten. Anfang 2018 zog Innenminister Herbert Kickl harsche Kritik von Opposition und Medien auf sich, als er eine Polizeirazzia im österreichischen Geheimdienst, dem Büro für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung BVT, durchführte und dessen Chef absetzte. Kickl verschärfte Regelungen für Asylwerber und Migranten, indem er deren Bezüge drastisch kürzte und mit dem Vorhandensein von Deutschkenntnissen verknüpfte. Erstaufnahmelager für Asylwerber ließ er in "Ausreisezentren" umbenennen, was sogar Wiens Kardinal Christoph Schönborn als "unerträglich" kritisierte.
Die FPÖ tat sich mit der staatstragenden Rolle anfangs sichtlich schwer. Immer wieder traten Probleme mit Geschichtsaufarbeitung und den deutschnationalen "Burschenschaftern" (korporierte Studentenverbindungen) zutage. Da tauchten Liederbücher mit unerträglichen Nazi-Texten auf. Da setzte der FPÖ-Vizebürgermeister von Braunau, der Geburtsstadt von Adolf Hitler, in Gedichten Migranten mit Ratten gleich. Da wurden Verflechtungen der FPÖ mit den rechtsradikalen "Identitären" bekannt. Diese Gruppierung hatte vom Attentäter auf die Moscheen in Christchurch (Neuseeland) Geldspenden bezogen.
Zu den diese Woche beginnenden Europawahlen schlug die FPÖ einen deutlich anti-europäischen Kurs ein und schloss sich mit Rechtspopulisten wie Italiens Lega-Boss Matteo Salvini, Frankreichs Rassemblement-National-Chefin Marine Le Pen, den niederländischen Islam-Gegnern von Geert Wilders und weiteren Rechtsparteien zu einer künftigen Fraktion zusammen. Das "Ibiza-Video" stellt für das rechte Bündnis allerdings eine Belastung dar.
Für Österreich sind die Folgen drastisch. Nach dem Rücktritt von Vizekanzler Strache traten diesen Montag alle FPÖ-Minister von ihren Ämtern zurück, aus Solidarität mit dem Innenminister von der FPÖ, Herbert Kickl, den Bundeskanzler Kurz mit Hilfe von Bundespräsident Alexander Van der Bellen aus dem Amt befördert hatte.
Veritable Staatskrise in Österreich
Kurz spekuliert nun bei Neuwahlen mit einem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen wie im Jahr 2002, als sein Amtsvorgänger Wolfgang Schüssel von der Selbstzerstörung der FPÖ durch ihren damaligen Chef Jörg Haider voll profitierte. Doch diesmal schlitterte Österreich erst einmal in eine veritable Staatskrise. Denn die Zusammensetzung der Übergangsregierung bis zu den Wahlen blieb - ein Novum in der Zweiten Republik - völlig offen.
Kurz kündigte an, die vakanten Ministerposten mit Experten, zumeist hohen Beamten, besetzen zu wollen. Doch es zeichnet sich ab, dass diese Regierung keine Mehrheit mehr im Parlament verfügen wird und geplante Misstrauensanträge im Nationalrat nicht überstehen könnte. Demnach könnte der Bundespräsident andere Parteichefs mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragen.
Die Sozialdemokraten (SPÖ) sinnen auf Rache für den von der ÖVP erzwungenen Gang in die Opposition, in der sie unter ihrer neuen Parteichefin Pamela Rendi-Wagner noch immer nicht richtig Tritt fassen konnten. Die Grünen, die 2017 nach Abspaltungen aus dem Parlament flogen, hoffen auf Wiedereinzug.
Sicher ist vorerst nur eine Konsequenz: Das innenpolitische Kräfteverhältnis in Österreich hat sich durch das Ibiza-Video komplett verschoben.
Otmar Lahodynsky ist Reakteur beim österreichischen Nachrichtenmaganzin profil und Präsident der Association of European Journalists.