Argentinien: Wohin soll die Wirtschaft steuern?
16. November 2023Argentinien ist am Sonntag in der Stichwahl um das höchste Amt im Staat aufgerufen, über die ökonomische Ausrichtung des Landes abzustimmen. Diese Wahl ist wenigstens wirtschaftspolitisch eine Richtungswahl: Radikaler Marktliberalismus oder klassischer Peronismus.
Die Zahlen sind dramatisch: Der Anstieg der Lebenshaltungskosten in Argentinien gegenüber dem Vorjahr betrug im laufenden Jahr bislang 142,7 Prozent, berichtete das Nationale Statistik Institut INDEC in dieser Woche. Die als politisch unabhängige geltende Armutsstatistik der Katholischen Universität (UCA) wies im September eine Armutsrate von 38,9 Prozent aus.
Schwache Zahlen: Vorlage für Opposition
Die schwachen Zahlen sind für Javier Milei, den Kandidaten eines konservativ-libertären Oppositionsbündnisses, eine Steilvorlage. "Diejenigen, die uns zu diesen Inflationsraten und dieser Armut geführt haben, machen uns Angst. Argentinien war Ende des 19. Jahrhunderts eine Weltmacht, dann kam der Niedergang der sozialistischen Regierungen", sagte Milei in dieser Woche bei einer Wahlkampfveranstaltung in Rosario und spielte darauf an, dass ihm eine Angstkampagne vorgeworfen wird. Von seinen Gegnern wird er als ultrarechter Hardliner bezeichnet, der die Demokratie in Argentinien in Gefahr bringe, weil er Grundrechte gefährde: "Wir wollen Privilegien abbauen, keine Rechte", kontert Milei, der sich selbst als ein Kämpfer für die Republik und gegen Populismus sieht.
Radikaler Marktliberalismus
Milei steht für einen radikalen Marktliberalismus, der den argentinischen Peso durch den Dollar ersetzen will. Er will den Staatsapparat deutlich reduzieren, Gesetze und Regulierungen für die Wirtschaft aufheben, staatliche Dienstleistungen privatisieren. Dadurch, so ist Milei überzeugt, entstehe ein Wirtschaftswachstum, dass das Land nach oben bringen und die Armut spürbar bekämpfen werde. Hinzu kamen aus seinem Lager hoch umstrittene Vorstöße zum Organhandel und die Meere "zu privatisieren".
Massa für sanftere Reformen
Was bei seinen Anhängern Euphorie auslöst, sorgt bei seinen Kritikern für Entsetzen. Sergio Massa, derzeit Wirtschafts- und Finanzminister des glücklosen und freiwillig aus dem Amt scheidenden Präsidenten Alberto Fernandez, will die Wirtschaft mit anderen Maßnahmen voranbringen. Neben Steuersenkungen auf der Grundlage eines noch auszuhandelnden Abkommens, der Erwirtschaftung von Steuer- und Handelsüberschüssen und der Schaffung von Reserven zur Zahlung an den IWF strebt er auch an, das Programm mit dem in Argentinien umstrittenen Internationalen Währungsfonds neu zu fassen.
Brachliegende Potentiale
Es regiert also das Prinzip Hoffnung, dass die angestrebten Maßnahmen, wenn sie denn eine politische Mehrheit finden, auch zu einem nachhaltigen Aufschwung und damit einer Stabilisierung der Währung und der Wirtschaft führen. Argentinien hat dem Rest der Welt einiges zu bieten, schafft es aber bislang nicht, dies auch zum Wohl der ganzen Bevölkerung zu nutzen.
Dazu gehören große Lithium-Vorkommen, die vor allem für die Mobilitätswende ein Schlüssel sind. Ölvorkommen vor der Küste, die trotz Protesten der Umweltschützer zur Förderung freigegeben werden, reichhaltige Gasvorkommen, Potential zur Produktion von grünem Wasserstoff, eine funktionierende Landwirtschaft und eine junge, in großen Teilen gut ausgebildete Bevölkerung.
Wirtschaftswissenschaftler uneins
"Die größte Herausforderung für die nächste Regierung im Bereich der Wirtschaft besteht darin, einen ersten Stabilisierungsplan aufzustellen und dann im Kongress eine Reihe tiefgreifender Strukturreformen durchzusetzen, um das Wirtschaftssystem tiefgreifend zu verändern", sagt Agustin Etchebarne, Direktor der Stiftung Libertad y Progreso in Buenos Aires, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er steht damit für eine Gruppe von Wirtschaftsexperten, die den Vorschlägen von strukturellen Veränderungen durchaus positiv gegenübersteht.
Zuletzt sorgte aber auch ein offener Brief von 100 internationalen Ökonomen, darunter der Franzose Thomas Piketty, Jayati Ghosh aus Indien oder der ehemalige Finanzminister von Kolumbien, Jose Antonio Ocampo für Aufsehen. Sie warnen, dass Mileis Vorschläge "voller Risiken sind, die sie potenziell sehr schädlich für die argentinische Wirtschaft und das argentinische Volk machen." Am kommenden Sonntag können die gut 35 Millionen argentinischen Wahlberechtigten entscheiden, in welche Richtung die Wirtschaft des Landes steuert.