Bremst die Streikwelle Deutschlands Volkswirtschaft aus?
13. März 2024Jens Höngen ist 30 Jahre alt und seit zehn Jahren bei der Deutschen Bahn. Mittlerweile fährt er die Regionalzüge rund um Köln. Wenn er denn fährt, denn in den vergangenen Monaten hat er schon mehrmals gestreikt. "Natürlich macht Streiken keinen Spaß", sagt Höngen, der seine Kölner Kollegen in der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) vertritt. Die Deutsche Bahn habe die Arbeit so sehr verdichtet, dass er keine andere Wahl sehe: "Immer weniger Personal muss immer mehr Züge fahren", sagt Höngen. Der Nachwuchs bleibe aus, weil die Arbeitsbedingungen einfach nicht attraktiv seien und bald gingen viele seiner Kollegen in Rente.
Unattraktiver Schichtdienst
Lokführer bei der Bahn arbeiten im Schichtdienst. Das heißt, sie fahren auch dann, wenn andere gerade schlafen oder Wochenende haben, und sie arbeiten manchmal länger. Offiziell hat Höngens Woche 38 Stunden, doch häufig arbeitet er bis zu 55 Stunden, erzählt er. Die Überstunden bekommt er an anderer Stelle wieder als Freizeit ausgeglichen und bezahlt, dennoch verdichte sich die Arbeit immer wieder sehr stark. "Manchmal arbeiten wir sechs Tage am Stück, manchmal fünf Tage mit einem Tag Pause und dann nochmal fünf Tage. Da gehen immer mehr Kollegen zugrunde - die werden fahrdienstuntauglich oder verlassen die Bahn", so Höngen.
Ein freies Wochenende im Monat garantiert ihm die Deutsche Bahn. Der Schichtdienst bestimmt sein Sozialleben, seine Beziehung und sogar die Überlegungen, Kinder zu haben. "Wenn man ein Kind in die Welt setzt, bedeutet das auch eine Verantwortung und der Beruf schränkt da die zeitliche Verfügbarkeit ein." Von seinem Arbeitgeber fordert er deshalb eine kürzere Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche, ein höheres Gehalt und 48 Stunden Pause zwischen langen Arbeitseinsätzen.
Streiks, Krise und noch mehr Streiks
Mit ihrem Streik stehen Jens Höngen und die 40.000 Mitglieder der GDL nicht alleine da. Auch bei der größten deutschen Fluglinie Lufthansa, bei den regionalen Verkehrsbetrieben und in Krankenhäusern wird immer wieder gestreikt.
Für Jens Höngen ist klar, warum in Deutschland gerade jetzt so viel gestreikt wird: Die gestiegene Inflation habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit diversen Zulagen kommt er auf circa 2600 Euro netto. "Alles wird knapper, alles muss man sich genauer durchrechnen. Früher war das nicht so." Dass auch andere Branchen auf die Straßen gehen, sieht er positiv: "Die haben alle die gleichen Probleme. Die arbeiten alle unregelmäßigen Schichtdienst."
Doch für Politik und Wirtschaft kommen die Streiks sozusagen zur Unzeit. Denn die Sorge ist groß, dass Deutschland immer tiefer in die Krise gleitet und zu einem "Wohlstandsmuseum" verkommt, wie es der Ökonom Moritz Schularik im DW-Wirtschaftspodcast formulierte.
"Deutschland kommt langsamer aus der Krise als erhofft", sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen). Und der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest meint, die Streiks hätten das Zeug dazu, die Gesamtwirtschaft noch weiter nach unten zu ziehen. "Das ist eine zusätzliche Belastung, die wir eigentlich nicht gebrauchen können", so Fuest im ARD-Fernsehen.
Wird Deutschland im Vergleich unproduktiver?
Doch wie schwer treffen die Streiks die Produktivität in Deutschland? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Laut Zahlen des europäischen Statistikamtes Eurostat ist die Arbeitsproduktivität im letzten Quartal 2023 in ganz Europa stark zurückgegangen. Und die britische Wirtschaftszeitung Financial Times rechnet vor, dass sie im gleichen Zeitraum in den USA deutlich gestiegen ist. Die Rede ist von einer wachsenden Produktivitätsschere zwischen den USA und Europa und von einer Produktivitätskrise in der EU.
Was sich sicher sagen lässt: Streiks kosten Geld. So schätzt das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) den gesamtwirtschaftlichen Schaden allein der Bahn-Streiks auf 100 Millionen Euro pro Streiktag für die Wirtschaft.
Doch was die Produktivität angeht, komme es darauf an, welche Zahlen man nehme, sagt Steffen Müller, Produktivitäts-Ökonom an der Leibniz Universität für Wirtschaftsforschung in Halle. "Die Arbeitsproduktivität ist letztendlich die Wertschöpfung pro Einheit - entweder pro Stunde oder pro Beschäftigten. Da die Amerikaner meist viel mehr arbeiten als die Deutschen, ist es klar, dass die Zahlen pro Beschäftigen höher ausfallen."
Die Arbeitsproduktivität pro Stunde hingegen sage mehr über die Effizienz aus. "Da geht es darum, was ich in einer fixen Zeit schaffe", so Müller. Da seien die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA in den letzten 30 Jahren nur sehr gering. "Das ist parallel nach oben gegangen, mit einem leichten Vorteil für die USA."
Deutschland und die Anpassungsfähigkeit
Seit der Corona-Pandemie hätte der Vorteil der USA aber zugenommen, so Müller. Man habe in Deutschland immer auf stabile Verhältnisse gesetzt. "Deutschland funktioniert wie eine geölte Maschine, solange sich die Dinge nicht schnell ändern. Doch momentan jagt eine Krise die nächste und das können wir nicht gut."
Die Streiks spielten da weniger eine Rolle als vielmehr strukturelle Faktoren, wie die gestiegenen Energiepreise durch den Ukraine-Krieg. Dennoch würden Streiks natürlich bedeuten, dass weniger Stunden gearbeitet werden, so Müller im DW-Gespräch. "Am Ende wird das Bruttoinlandsprodukt vielleicht ein bisschen schwächer ansteigen als ohne die Streiks - vor allem in den Bereichen, in denen ich Streikausfälle nicht nacharbeiten kann, wie beispielsweise bei der Bahn." Wie viel das ausmache, sei aber nicht seriös zu sagen, so Müller.
Für den Lokführer Jens Höngen von der Deutschen Bahn ist die Produktivitätsberechnung nochmals eine ganz andere. "Wenn die Arbeitsbedingungen so bleiben, kommt kein Personal nach. Wenn dann der nächste Schub in Rente geht, fällt das System Eisenbahn in sich zusammen. Das ist dann auch nicht produktiv."