Droht Frankreich ein Finanz-Orkan?
3. Dezember 2024Eigentlich hatte Frankreichs Regierung gehofft, die Wirtschaft des Landes wieder in ruhigere Fahrwasser steuern zu können. Nachdem die Prognose für das Staatsdefizit dieses Jahres überraschend von zunächst um die fünf auf über sechs Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung geschossen war, legte der frisch ernannte Premierminister Michel Barnier im Oktober einen Plan vor, das Haushaltsloch bis 2029 auf die im Stabilitätspakt der Europäischen Union (EU) vorgegebenen drei Prozent zu senken.
Im Juni hatte die Union ein außergewöhnliches Haushaltsdefizit-Verfahren gegen das Land eröffnet. Einen ersten Teil seines Plans wollte Barnier im Budget für 2025 durchs Parlament bringen, indem er das Gesetz an die Vertrauensfrage koppelt. Das war nötig geworden, weil die Regierung seit den vorgezogenen Parlamentswahlen vom Juli nicht mehr die größte Fraktion im Parlament stellt.
Präsident Macron hatte im Juni das Parlament aufgelöst, nachdem seine Partei in den EU-Parlamentswahlen nur halb so viele Stimmen wie die auf Platz eins gelandete Rechtsaußen-Partei Rassemblement National bekommen hatte. Doch am 4.12.2024 haben die Oppositionsparteien in einem Misstrauensvotum die Regierung gestürzt. Das beschert Frankreich nun eine Regierungskrise und könnte das Land in eine Wirtschaftskrise stürzen.
Von China abgehängt
Dabei schien es um die französische Wirtschaft zuletzt vergleichsweise gut bestellt. Dieses Jahr soll sie um 1,1 Prozent wachsen - das deutsche Bruttoinlandsprodukt soll laut Prognose der Bundesregierung um 0,2 Prozent sinken. Frankreichs Arbeitslosenquote steht bei 7,4 Prozent - was sich für das Land im historischen Vergleich sehen lassen kann. Auch die Inflation liegt bei rund zwei Prozent - vor zwei Jahren überstieg sie noch fünf Prozent.
Doch diese relativ positiven Zahlen könnten nicht über eine grundlegende Schwäche der französischen Wirtschaft hinwegtäuschen, so Denis Ferrand, Chef des Pariser Wirtschaftsforschungsinstituts Rexecode. "Französische - und europäische - Unternehmen haben seit 2019 erheblich an Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu China verloren", sagt er zu DW. "In Europa sind die Produktionskosten im Schnitt um 25 Prozent gestiegen, in China nur um drei Prozent." Das sei hierzulande vor allem die Folge der zeitweise hohen Inflation, Zinsen und Energiepreise - vor allem nach dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022.
Strukturelle Krise
So herrsche ein "Klima der Zurückhaltung", meint Ferrand: "Wir befragen jedes Vierteljahr 1000 Chefs französischer kleiner und mittlere Unternehmen zu ihrem Investitionsverhalten. Ende Oktober gaben nur 36 Prozent von ihnen an, ihre Investitionen beibehalten zu wollen - 45 Prozent wollten sie verschieben und 18 Prozent gar nicht investieren. Eine solche Tendenz hatte sich zwar schon Anfang des Jahres abgezeichnet, aber die vorgezogenen Parlamentswahlen haben sie extrem verstärkt."
Auch eine Umfrage der britischen Beratungsfirma Ernest & Young (EY) unter 200 internationalen Unternehmenschefs Mitte November zeigte, dass rund die Hälfte von ihnen ihre Investitionsvorhaben in Frankreich reduziert oder verschoben hatten. Dabei ist Frankreich laut EY seit 2019 das Land Europas, dass die meisten internationalen Investitionen anzog.
Zurückhaltung unter Investoren bestätigt auch Philippe Druon, Konkursanwalt bei der Pariser Kanzlei Hogan Lovells. "Es ist zurzeit sehr schwierig, Aufkäufer für Unternehmen im Konkursverfahren zu finden. Davon habe ich im Moment 60 in Arbeit, was enorm viel ist", sagt er zu DW. "Die Zahl der Pleiten nähert sich jener während der internationalen Finanzkrise 2008." Laut Schätzungen sollen dieses Jahr rund 65.000 Unternehmen Konkurs anmelden - im Vergleich zu etwa 56.000 im vergangenen Jahr.
"Das ist zwar auch ein Nachholeffekt - Unternehmen müssen nun die während der Corona-Epidemie gewährten Darlehen zurückzahlen - aber nicht nur", unterstreicht der Experte. "Es handelt sich auch eine strukturelle Krise, zum Beispiel im Autosektor mit dem Übergang zu Elektroautos, aber auch im Immobiliensektor, in dem Büros nach langer Zeit des Home-Offices weniger gefragt sind." Außerdem hätten hohe Zinsen auf dem Kapitalmarkt Investitionen schwieriger finanzierbar gemacht, da Letztere dadurch weniger attraktiv erscheinen.
"Ein monumentaler Fehler"
Doch Anne-Sophie Alsif, Chefökonomin der Pariser Unternehmensberatung BDO, sieht die wirtschaftliche Lage als nicht so dramatisch an - wäre da nicht der politische Faktor. "Unsere Makro-Kennzahlen sind dabei, sich zu verbessern, aber wenn die Regierung fällt und es kein spezifisches Budget für 2025 gibt, könnten wir direkt in eine Wirtschaftskrise schlittern - es wäre eine Katastrophe", sagt sie gegenüber DW. "Das würde Investoren signalisieren, dass Frankreich unfähig ist, einen Plan umzusetzen, um seine Schulden abzubauen."
Nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum würde wahrscheinlich der Haushalt 2024 für das nächste Jahr reproduziert. "Aber das war ja das Budget, mit dem unser Haushaltsloch auf über sechs Prozent gestiegen ist", betont Alsif. "Macrons Entscheidung, das Parlament aufzulösen, war ein monumentaler Fehler - nun sind wir gezwungen, mit einer Koalition zu regieren, aber das können wir in Frankreich einfach nicht. Unsere politische Situation ist extrem instabil."
Das relativiert Christopher Dembik, Investmentberater bei der Pariser Filiale der Schweizer Vermögensverwaltung Pictet Asset Management. "Es ist übertrieben zu sagen, dass Frankreich eine Finanzkrise droht", sagt er zu DW. "Das würde ja heißen, dass Frankreich nicht mehr in der Lage wäre, seine Schulden zu refinanzieren - so wie ab 2009 Griechenland."
Eine solche Tendenz sehe man bisher nicht auf den Finanzmärkten, so der Ökonom: "Manager von Amerikanischen Investmentfonds sagen mir, dass sie längst das politische Risiko in ihr Kalkül miteinbezogen haben, und der Spread - also der Unterschied der Zinsen auf zehnjährige Staatsanleihen im Vergleich zu Deutschland - liegt bei etwa 80 Punkten, Frankreich zahlt gerade einmal 0,8 Prozentpunkte mehr Zinsen als Deutschland. Das ist durchaus akzeptabel."
Immer noch "too big to fail"?
Die Zinsen für zehnjährige französische Staatsanleihen liegen zurzeit bei rund drei Prozent. Jedoch überstiegen diese jüngst zum ersten Mal in der Geschichte diejenigen Griechenlands. Und bis zur Ankündigung der vorgezogenen Parlamentswahlen lag der Spread noch bei etwa 50 Punkten.
Ökonom Ferrand vertraut deswegen weniger darauf, dass das Land nicht in eine Finanzkrise rutscht. "Bisher hat Frankreich immer darauf gesetzt, dass es "too big to fail" ist, also zu groß, als dass andere europäische Länder es pleite gehen lassen", sagt er. "Aber in Brüssel verliert man langsam die Geduld mit der französischen Unfähigkeit, die Schulden abzubauen." Letztere sind inzwischen höher als das französische Bruttoinlandsprodukt.
Der Beitrag wurde nach dem Misstrauensvotum vom 4.12.2024 aktualisiert.