Ein paar Liter vom Reichtum
10. Dezember 2012
Der Eingang ist gut getarnt und nur mit einem Boot zu erreichen. Vorsichtig schieben ein paar Männer die großen Äste beiseite - eine wichtige Sicherheitsmaßnahme, denn ihr Versteck darf nicht so schnell auffliegen. Hier am Ufer des Niger-Deltas, einem Labyrinth aus unzähligen Flussarmen im äußersten Südosten des Landes, holen sie sich ein bisschen von Nigerias Reichtum zurück.
Als das Boot angelegt hat, verteilt Joshua Gummistiefel. Beißende Rauchschwaden hängen in der Luft, der Boden ist morastig und vom Öl schwarz gefärbt. Joshua geht vor. Überall stehen Blecheimer, Fässer und mittendrin einfache, selbst gezimmerte Holzgestelle, mit denen die Männer Benzin, Kerosin und Diesel produzieren. Sie sind das Herzstück der lokalen Raffinerie. Das Wort "illegal" will hier niemand hören.
Dreckig, gefährlich und heiß
Wer hier arbeitet, hat einen Knochenjob. Die Flammen lodern. Einer der Ölkocher wischt sich den Schweiß von der Stirn. Seine Unterarme sind schwarz. Er ist dafür zuständig, dass das Rohöl in einem der großen Fässer erhitzt wird. Schutzmaßnahmen gibt es im Mangrovenwald nicht. "Das ist ein wirklich gefährlicher Job. Ein paar Mal ist Feuer ausgebrochen", sagt Joshua. "Ich kann euch die Narben zeigen, die einer der Arbeiter seitdem trägt".
Es sind nicht nur die spektakulären Brandunfälle, die die Arbeit hier so gefährlich machen. Die Lebenserwartung im Niger-Delta liege bei gerade einmal 41 Jahren, sagt Nnimmo Bassey, Träger des Alternativen Nobelpreises und Vorsitzender der Organisation Environmental Rights Action (ERA). Landesweit seien es immerhin noch 48 Jahre. Schuld daran: die massive Umweltverschmutzung durch die Ölförderung. Überall im Niger-Delta wird Gas abgefackelt, obwohl das bereits seit 1984 verboten ist. Bei der Verbrennung entstehen giftige Dämpfe. Regelmäßig tritt Öl durch undichte oder illegal angezapfte Pipelines aus, macht Trinkwasser ungenießbar, zerstört Fischbestände oder verseucht die Böden der Farmer.
Andere Jobs gibt es nicht im Delta
Bei den lokalen Raffinerien ist es nicht anders. Trotzdem rechtfertigt Joshua seine Arbeit mit dem Rohstoff. "Wir machen das hier nur, weil es keine anderen Jobs gibt". Währenddessen sickert das Öl ungehindert in den Boden. An guten Tagen stellen die Männer 10.000 Liter Benzin und rund 25.000 Liter Diesel her. All das sei jedoch nur für den Eigenbedarf bestimmt, sagen sie - für die Generatoren daheim und die Bootsmotoren.
Juliette winkt den Männern zu. Die junge Frau, die in viel zu großen Gummistiefeln durch den Schlamm stapft, kennt das gut getarnte Versteck der Ölkocher. "Hier kaufe ich mein Kerosin", sagt sie. In ihrer linken Hand baumelt ein gelber 25-Liter-Kanister. Einmal füllen kostet 300 Naira, umgerechnet 1,50 Euro - ein Spottpreis. An einer Tankstelle müsste sie pro Liter mindestens 500 Naira zahlen, wenn es dort überhaupt Kerosin gibt. Häufig warten die Menschen stunden- oder sogar tagelang auf eine neue Lieferung. Wenn die dann endlich ankommt, verdreifacht oder vervierfacht sich der Preis schnell.
Einen Dollar zum Überleben
Seit 1958 wird in Nigeria Öl gefördert. Doch die Bevölkerung hat vom Rohstoff-Reichtum des Landes bislang nicht profitiert. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass etwa 70 Prozent der rund 160 Millionen Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, das heißt von täglich 1,25 US-Dollar (0,95 Euro). Vor 20 Jahren waren es laut Weltbank gerade einmal 34 Prozent. "Vor 50 Jahren war die Entdeckung des Öls das Beste, was Nigeria hätte passieren können. Heute wissen wir: Für das Niger-Delta ist es das Schlimmste", sagt Kentebe Ebiaridor. Er arbeitet in Port Hartcourt, der größten Stadt im Delta, für die Umweltschutzorganisation ERA. "Mit dem Ölgeld hat man Städte wie Abuja und Lagos gebaut. Die Region hier aber ist leer ausgegangen".
Und dabei ist Nigeria inzwischen die Nummer 8 der weltweit größten Erdöl-Exporteure. Die Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC), das staatliche Mineralölunternehmen, brüstet sich mit glänzenden Statistiken. Täglich würden 2,5 Millionen Barrel Rohöl gefördert. Geht es nach den Wünschen von Ölministerin Diezani Alison-Madueke, dann könnten es bis zum Jahr 2020 sogar vier Millionen Barrel pro Tag sein.
Hoffnungsträger Goodluck Jonathan
Juliette hebt ihren Kanister hoch, den ihr einer der Männer gefüllt hat. Normalerweise würde sie größere Mengen abnehmen, rutscht es ihr heraus. "Ich habe da jemanden, der das Kerosin nach Yenagoa schafft". Wie viel sie als Zwischenhändlerin verdient, wenn sie es in die Hauptstadt des Bundesstaates Bayelsa bringt, will die junge Frau nicht sagen. Sie schaut verlegen zu Boden. "Ich habe keine andere Wahl. Eine andere Arbeit gibt es nicht für mich". Im vergangenen Jahr lag die Arbeitslosenrate nach Angaben der Nationalen Statistikagentur bei 23,9 Prozent. Im Vergleich zu den Vorjahren ist sie damit kontinuierlich gestiegen.
Dennoch schien es so, als ob sich die Lebensbedingungen endlich ändern könnten. Im April 2011 wurde mit Goodluck Jonathan zum ersten Mal jemand aus dem Süden, aus dem Bundesstaat Bayelsa, zum Präsidenten gewählt. Ein Hoffnungsschimmer für viele Menschen im Niger-Delta, die sich durch die Dominanz der früheren Regierungschefs aus dem Norden stets benachteiligt fühlten. Über Juliettes Gesicht huscht ein kleines, verächtliches Lächeln. "Ja, er kommt aus Bayelsa. Aber getan hat er nichts für uns. Schau‘ dir das doch an", sagt sie und zeigt auf den mit Öl beschmierten Boden. "Diese Politiker versprechen einem alles. Aber zum Schluss halten sie nichts".
Die Ölfirmen sind schuld
Kritik, die im 13. Stock des Regierungsgebäudes von Rivers, dem Nachbarbundesstaat von Bayelsa, niemand hören will. Okey C. Amadi ist Energieminister und auch für die Bodenschätze von Rivers verantwortlich. Für ihn ist die Sache klar: "Acht Jahre lang habe ich im Nationalrat gesessen. Wann immer wir etwas mit Shell, aber auch mit anderen Ölfirmen zu tun hatten, hat sich gezeigt: Sie sind überhaupt nicht am Wohlbefinden der Bevölkerung interessiert. Die Menschen hier können zur Hölle gehen. Interessiert sind die Konzerne nur an ihren Geschäften".
Trotzdem klammern sich Joshua und seine Leute an die Ölfirmen. "Sie sollen uns einstellen und ordentlich bezahlen", ruft einer der Ölkocher. Die übrigen Männer stimmen ihm zu. Doch Joshua bricht die Diskussion ab und will lieber aufbrechen. Mit dem Motorboot geht es wieder raus aus dem Versteck der lokalen Raffinerie. Die Männer rücken die Zweige zurecht. Der Eingang ist nur noch schwer erkennbar. Immer würde das nicht helfen, verraten sie. Bereits mehrmals haben sie Besuch von Polizisten und Soldaten bekommen. "Sie haben alles niedergebrannt. Wir sind auch schon verhaftet worden". Auf die Frage, wie Joshua wieder aus dem Gefängnis herausgekommen sei, grinst er: "Mit ein bisschen Geld geht das. Du musst wissen: Das hier ist Nigeria".