Gefangenenaustausch: Moskau lässt Kremlkritiker frei
Veröffentlicht 31. Juli 2024Zuletzt aktualisiert 1. August 2024In der türkischen Hauptstadt Ankara wurden nach Agenturberichten insgesamt 26 Gefangene, 24 Erwachsene und zwei Kinder, ausgetauscht. Die Medien berufen sich auf Informationen des türkischen Geheimdienstes MIT. Angedeutet hatte sich der Austausch bereits in den vergangenen Tagen.
Unter den ausgetauschten Inhaftierten sind demnach die wegen Spionage verurteilten US-Amerikaner Evan Gershkovich und Paul Whelan sowie der Deutsche Rico K., der in Belarus zum Tode verurteilt worden war. Machthaber Alexander Lukaschenko hatte das Todesurteil gegen K. erst Anfang dieser Woche aufgehoben.
Auch Kremlkritiker und russische Oppositionspolitiker wie Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa sind freigelassen worden. Jaschin saß zuletzt in der Strafkolonie Nummer 3 in der Region Smolensk ein. Er war 2022 wegen "Falschmeldungen" über die russische Armee zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt worden.
Nach Russland kehrten insgesamt acht Staatsbürger zurück. Unter ihnen befindet sich auch der mutmaßliche russische Geheimdienstagent Wadim Krassikow . Er verbüßte eine lebenslange Haftstrafe in Deutschland, weil er 2019 einen anderen russischen Staatsbürger im Berliner Tiergarten ermordet hatte.
Nach Agenturberichten waren insgesamt sieben Flugzeuge an der Aktion beteiligt. Ausgetauscht wurden laut dem türkischen Geheimdienst MIT auch Gefangene aus Gefängnissen in Polen, Slowenien, Norwegen und Belarus.
Bereits am Donnerstagabend war die Aktion abgeschlossen. Nach offiziellen türkischen Angaben handelt es sich um den "größten Gefangenenaustausch zwischen Ost und West seit dem Zweiten Weltkrieg".
Reaktionen aus Washington und Moskau
Nach dem Abschluss des Gefangenenaustausches dankte Kremlchef Putin allen Beteiligten. Er sei insbesondere dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko dankbar für die Begnadigung des deutschen Staatsbürgers Rico K.
Nach Agenturberichten unterschrieb Putin zwölf Begnadigungen, darunter für die beiden US-Amerikaner Gershkovich und Whelan. Damit sollten im Gegenzug russische Häftlinge aus dem Ausland zurückgeholt werden.
Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew erklärte gegenüber Agenturen, dass "Vaterlandsverräter eigentlich im Gefängnis verrotten und sterben sollten". Doch für Moskau sei es "nützlicher", dass seine Bürger nach Hause zurückkehrten.
US-Präsident Joe Biden erklärte, dass nach dem Ende des Gefangenenaustauschs keine Notwendigkeit mehr bestehe, mit Putin zu sprechen. Er dankte Bundeskanzler Olaf Scholz für Deutschlands Zugeständnisse, ohne die der Austausch nicht möglich gewesen wäre.
Deutschland hatte eingewilligt, den in Deutschland zu lebenslänglicher Haft verurteilten "Tiergartenmörder" Wadim Krassikow an Russland zu übergeben.
War "Verschwinden" Vorbereitung auf Gefangenenaustausch?
Unmittelbar vor dem Gefangenenaustausch war der Kontakt mit mehreren in Russland inhaftierten Kremlkritikern abgebrochen. Weder ihre Anwälte noch ihre Familien wussten seither, wo sie sich aufhielten, darunter auch Kara-Mursa und Jaschin. Zunächst unklar war das das Schicksal weiterer inhaftierter Oppositioneller wie Lilija Tschanyschewa, der ehemaligen Leiterin des Wahlstabs des inzwischen verstorbenen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.
Sie war 2021 zu sieben Jahren und 2024 zu weiteren zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Als Tschanyschewas Ehemann Almaz Gatin kürzlich versuchte, ein Paket für seine Frau in der Strafkolonie abzugeben, musste er erfahren, dass Tschanyschewa am 26. Juli in eine andere, unbekannte Justizvollzugsanstalt verlegt worden war.
Laut AFP war Tschanyschewa ebenso unter den Freigelassenen wie Xenia Fadejewa, die für ihre Mitarbeit in Nawalnys Wahlstab in Tomsk zu neun Jahren Haft verurteilt worden war.
Auch die Anwälte von Alexandra Skotschilenko hatten bis zu ihrer Freilassung vergeblich versucht, Kontakt zu ihrer Mandantin herzustellen. Besonderer Anlass zur Sorge war, dass sich im Gefängnis die chronischen Leiden der Künstlerin verschlimmert hatten: eine bipolare affektive Störung, die Darmkrankheit Zöliakie und ein Herzfehler. Sie war zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil sie im Supermarkt Kritiken gegen den Ukrainekrieg anstelle von Preisschilder platziert hatte.
Ebenfalls wegen "wiederholter Verunglimpfung" der russischen Armee saß der nun freigelassene ehemalige Co-Vorsitzendender Menschenrechtsorganisation Memorial, Oleg Orlow, hinter russischen Gittern. Auch der Deutsch-Russe Kevin Lick kam frei. Der junge Mann war im Februar 2023 auf dem Flughafen von Sotschi festgenommen und zu vier Jahren Strafkolonie verurteilt worden. Ermittlungen hatten ergeben, dass er Einsatzorte der russischen Armee fotografiert hatte.
Der im Exil lebende russische Jurist Iwan Pawlow hatte in einem Gespräch mit der DW einen möglichen Gefangenenaustausch vorausgesagt: "Sie könnten nach Moskau kommen, wo das Regime die absolute Geheimhaltung ihres Aufenthaltsortes garantiert", sagte er über die "verschwundenen" Gefangenen.
Für sie alle könnten Reisepässe und ein Begnadigungserlass des Präsidenten vorbereitet werden. Wobei ein Begnadigungserlass auch ohne vorheriges Gesuch möglich sei, wie der Fall der ukrainischen Pilotin Nadeschda Sawtschenko gezeigt habe.
Rückkehr zu sowjetischen Zeiten
Auch die in Berlin lebende Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa, Leiterin der Stiftung Russland hinter Gittern, war davon ausgegangen, dass alle Anzeichen für einen "großen Austausch" vorlägen. Deutsche Behörden seien in dieses Ereignis involviert, sagte sie vor ein paar Tagen der DW.
Der Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowskij schreibt in seinem Telegram-Kanal, dass es vor kurzem ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko auf der russischen Insel Walaam gegeben habe, das nicht angekündigt gewesen sei. Dabei könne es um den Austausch von Rico K. gegangen sein.
Der russische Politikwissenschaftler Dmitri Oreschkin sieht in dem Gefangenenaustausch den Versuch der russischen Behörden, die entsprechende sowjetische Praxis wieder aufleben zu lassen. "Putin ist ein Vertreter des Systems, der eine klare, vertraute Lebensformel für einen Sowjetmenschen wiederherstellt", erklärte er vor wenigen Tagen. Oreschkin verwies darauf, dass der Kreml mit allen Mitteln den mutmaßlichen FSB-Agenten Krassikow zurückbekommen wolle, der "einen hohen Wert für das mafiöse System und seine Selbstbehauptung" darstelle.
Dieser Text wird fortlaufend aktualisiert. In einer früheren Version hatten wir den vollen Namen von Rico K. genannt, dies aber auf Wunsch des Vaters nachträglich geändert.