NATO gegen Russland - Ein Rennen gegen die Zeit
16. November 2023Den NATO-Staaten in Europa bleiben nur "fünf bis neun Jahre", um für einen möglichen Angriff Russlands auf das Bündnisgebiet "kriegstüchtig" zu werden. Das geht aus einer Analyse der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hervor, die jetzt vorgelegt wurde. Die Autoren Christian Mölling und Torben Schütz vom Zentrum für Sicherheit und Verteidigung der renommierten Denkfabrik in Berlin sind überzeugt, dass "der nächste Krieg in Europa nur in einem begrenzten Zeitraum effektiv verhindert werden" könne.
Russische Rüstung bereits jetzt auf Kriegswirtschaft umgestellt
Sie verweisen darauf, dass Russland im Zuge des Krieges gegen die Ukraine seine Rüstungsproduktion bereits auf Kriegswirtschaft umgestellt habe. "Auch nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine ist die russische Kriegsfähigkeit größer, als es der momentane Eindruck vermittelt. Die größten Verluste an Personal und Material mussten die Landstreitkräfte hinnehmen", heißt es in der Analyse mit dem Titel "Den nächsten Krieg verhindern". Deutschland und die NATO stünden "im Wettlauf mit der Zeit", um die konventionellen Streitkräfte so hochzurüsten, dass ihr Abschreckungspotential eine russische Kalkulation für einen erfolgreichen Angriff zum Beispiel auf die NATO-Staaten Litauen, Lettland und Estland übersteigt.
Der DGAP-Sicherheitsexperte Christian Mölling beruft sich dabei auf Geheimdienst- und Militärkreise in Deutschland. Die Analyse deckt sich mit den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr, die der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius Anfang November vorgestellt hat. Pistorius hat dabei erstmals öffentlich das Wort "kriegstüchtig" als Ziel für den Wiederaufbau der Bundeswehr benutzt.
"Der Krieg ist mit Putins brutalem Angriff gegen die Ukraine nach Europa zurückgekehrt", so Pistorius. "Damit hat sich die Bedrohungslage verändert. Deutschland muss als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich starkes Land in der Mitte Europas das Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein", sagte der deutsche Verteidigungsminister bei der Vorstellung der neuen Leitlinien für die deutschen Streitkräfte.
Grundlage für die Berechnung möglicher Zeitfenster für die NATO zur Verhinderung eines Krieges durch höhere Abschreckung ist die Überlegung, dass es Russland gelingt, den Krieg in der Ukraine einzufrieren. Damit würde der Kreml Zeit gewinnen, um seine Landstreitkräfte wieder aufzubauen. Allerdings rechnet kaum jemand im politischen Berlin mit einem schnellen Ende des Angriffskriegs. "Beide Seiten haben weitere militärische Pläne", sagt der Ukraine- und Russlandexperte Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz im DW-Interview. "Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass das noch eine Weile so weitergeht."
Einfrierende Front in der Ukraine
Allerdings hatte zuletzt der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj gewarnt, dass die bisherigen Militärhilfen der gut 50 Unterstützer-Nationen seines Landes unter Führung der USA lediglich zu einem "Patt" geführt hätten. Der Frontverlauf im Osten und Süden der Ukraine hat sich auch während der ukrainischen Gegenoffensive seit dem Juni kaum verändert. In einem Stellungskrieg aber sei Russland im Vorteil, weil seine hochgefahrene Rüstungsindustrie über nahezu unbegrenzte Artilleriewaffen verfüge, warnt der österreichische Militäranalyst Markus Reisner im DW-Interview. Die Ukraine könne nur in einem Bewegungskrieg erfolgreich sein. Um dies im kommenden Frühjahr wieder zu ermöglichen, brauche die Ukraine modernste Waffen aus dem Westen.
Gleich mehrere Kenner des Kriegsgeschehens gehen davon aus, dass sich die Front in der Ukraine zu einem immer mehr elektronisch geführten Schlachtfeld entwickele. Immer mehr ist die Rede vom Einsatz künstlicher Intelligenz bei der Kriegführung.
"Es geht um die Beherrschung des elektromagnetischen Feldes, wo gefunkt wird und Drohnen gesteuert werden", sagt Reisner zur DW. Und auch der Ukraine-Experte Nico Lange bestätigt, dass Russland mittlerweile sehr erfolgreich ukrainische Waffen mit Satellitensteuerung stören könne.
Wirtschaftssanktionen bei High-Tech-Gütern gescheitert?
Das betreffe selbst die von den USA gelieferten HIMARS-Raketenwerfer, mit denen die Ukraine bei ihren Rückeroberungen vor einem Jahr den russischen Nachschub stören konnte. "Russland ist sehr erfolgreich im Jammen", so Lange. Mit Jammen wird die Störung gegnerischer Satelliten-, Radar- und Funksignale bezeichnet. Das ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund, dass sich der Kampf in der Ukraine in bald zwei Jahren immer mehr zu einem Drohnenkrieg gewandelt hat. Diese greifen nicht nur mit Waffen an, sondern liefern Bilder und sorgen gemeinsam mit Satellitenaufklärung für eine gläserne Front. Auch da habe Russland aufgerüstet, so Lange.
Offenbar haben die Wirtschaftssanktionen der EU und der USA nicht verhindert, dass Russland weiter über Mikrochips und andere High-Tech-Güter verfügt. Russland verfüge zudem unbeeinträchtigt über seine eigene Satelliten-Navigation zur Zielführung von Raketen, sagt Ukraine- und Sicherheitsexperte Lange. Auch diese Überlegung fließt offensichtlich in die Analyse zur NATO-Aufrüstung der Denkfabrik DGAP ein.
Erhöhung der NATO-Abschreckung
In Berlin sei die Überzeugung gewachsen, so die Studie, dass Russland bei der laufenden Rüstungsproduktion seine Landstreitkräfte rasch wieder aufbauen könne. Und zwar so, dass ihre Kampfkraft das derzeitige Abschreckungspotential der NATO für einen konventionellen Krieg in Europa übersteige: "Experten und Geheimdienste schätzen, dass Russland sechs bis zehn Jahre brauchen wird, um seine Armee so weit wiederaufzubauen, dass es einen Angriff auf die NATO wagen könnte", so DGAP-Analyst Christian Mölling. Entsprechend habe die NATO nur eine Zeitspanne von fünf bis neun Jahren, um so hochzurüsten, dass ein Angriff Russlands abgewehrt werden könne: "Ein Angriff Russlands auf NATO-Territorium kann nicht mehr ausgeschlossen werden", so Mölling. "Damit ist die Frage nicht mehr, ob Deutschland und die NATO kriegsfähig sein müssen, sondern nur noch: bis wann."