Skulpturen-Installation fürs Ruhrgebiet
1. Mai 2021Die Miniaturgebäude waren eigens mit dem Schiff angereist: Majestätisch thronten sie auf der Fahrt durch das weit verzweigte, von vielen Schleusen unterbrochene Kanalsystem von Berlin nach Duisburg an Deck des Binnenschiffes. Eine ungewöhnliche Fracht: 21 im Künstleratelier endgefertigte Skulpturen. Im Duisport, dem größten Binnenhafen Europas, wurden sie Anfang April ausgeladen und behutsam auf einen Tieflader verfrachtet.
Auf den ersten Blick sehen die Skulpturen klein und fragil aus, aber einige sind tonnenschwer. Gegossen aus massivem Beton, leicht eingefärbt mit mediterranem Natursand. Hergestellt wurden sie in Spezialwerkstätten im Ruhrgebiet, die sonst in ganz anderen Dimensionen riesige Bauteile produzieren.
Andere Teile, wie Fenster, Simse und andere Details - haben die Künstler in ihrem Berliner Werkstattkomplex aus Stahlkonstruktionen und Plexiglas oder aus Aluminiumplatten angefertigt. Modulare Bauweise - wie bei echter Architektur - nur eben in Miniaturformat. Aber auch da muss jede Sichtachse, jede Fensterkante stimmen.
Künstlerische Interpretation der Realität
Mehr als zwei Jahre hat die Planung der mehrteiligen Kunstinstallation gedauert. Der Künstler Julius von Bismarck hat sich für das aufwendige Projekt die Architektin und Künstlerin Marta Dyachenko an die Seite geholt. Gemeinsam im Team haben beide die Nachbauten der Gebäude erst als 3D-Modelle konzipiert und dann als Skulpturen künstlerisch umgesetzt.
Ein Stab von Spezialisten und engagierten Kunststudenten unterstützte die beiden Künstler bei Vorrecherchen, der Fertigung und am Ende beim Aufbau vor Ort in Duisburg. "Das sind keine ganz genauen Abbildungen" sagt Julius von Bismarck im DW-Interview. "Wir haben probiert, die Aura der Gebäude wiederzuspiegeln. Beim Übersetzen in andere Materialien muss man Dinge teilweise auch verändern."
Kulturmetropole Ruhr: Kunst statt Kohle
Alle Gebäude, die die Künstler für das Projekt "Neustadt" ausgewählt haben, sind längst abgerissen: gesprengt, demontiert oder abgetragen. Teil eines grundlegenden Strukturwandels in einer der größten Industrieregionen Europas. Stillgelegte Zechen, verwahrloste Brachen, Abraumhalden und viel Leerstand prägen das Stadtbild auch in Duisburg.
2010 hat sich das Ruhrgebiet, wo Werkschließungen und Massenentlassungen die Geschichte stark geprägt haben, neu erfunden: Die "Kulturmetropole Ruhr" zog im Jahr der Kulturhauptstadt hunderttausende Kunstinteressierte und Neugierige aus aller Welt an. Von New York und San Francisco bis Paris und Berlin kursierten Geheimtipps für die schrägsten "Kunst-Orte im Pott" in der Szene. Kreativer Impuls für die zum Teil schwer heruntergekommenen Industriestädte im Ruhrgebiet.
Bis heute hält dieser Impuls an. Jedes Jahr werden am Emscherkunstweg Außenskulpturen von internationalen Künstlern installiert. 20 Kilometer entlang des früheren Emscher-Flusskanals kann man die bei einer Radtour besichtigen. 18 Kunstwerke sind es bisher. Mit dabei sind: Tadao Ando, Massimo Bartolini, Rita McBride, Bogomir Ecker, Olaf Nicolai, Mischa Kuball u.v. a. Längst wurden sie in Reiseführer und ART-Guides für Deutschland als "sehenswert" aufgenommen.
Urbane Außenskulptur: "Neustadt"
Die Skulpturen-Installation von Marta Dyachenko und Julius von Bismarck ist die 19. künstlerische Arbeit, die im Außenbereich platziert wurde. Den Standort haben die beiden Künstler bewusst ausgewählt - umtost von sich kreuzenden, viel befahrenen Autobahnen. Hinter struppigen Birken schimmert in der Ferne das stillgelegte Stahlwerk Duisburg-Meiderich durch, heute ein Abenteuerspielplatz, auf dem Kinder und erwachsene Besucher herumklettern können.
"Uns war wichtig einen Ort zu finden, der einen verwilderten Charakter hat" erzählt Marta Dyachenko, während sie die Fundamente für die Skulpturen millimetergenau nachmisst. Sie ist in Kiew geboren und lebt und arbeitet in Berlin. "Mit unserem Projekt beziehen wir uns auf das Thema Natur und Landschaft - in Bezug auf den vom Menschen umbauten Raum."
Die 21 Haus-Skulpturen der kleinen "Neustadt" sind auf einem kleinen Hügel direkt neben dem Fahrrad- und Spazierweg gruppiert - wie in einem Amphitheater. Keine Absperrung, die Zuschauer stehen quasi auf der Bühne. "Es gibt keine echte Natur", konstatiert Julius Bismarck. "Das heißt hier Landschaftspark Duisburg-Nord - eigentlich ein poetischer Name. Und die Gebäude, die wir hier bauen, sind genauso natürlich wie ein Vogelnest natürlich ist."
Ökologie und Kunst als Einheit
Politische Themen, die auch die Künstler beschäftigen: "Wo steht der Mensch zwischen Natur und Kultur?", erläutert Dyachenko im DW-Interview. "Heutzutage sind das ganz aktuelle Fragen: Inwieweit können wir etwas wieder verwildern lassen? Was macht der Mensch in diesen ganzen ökologischen Prozessen?"
Gerade hier im Emscher-Gebiet, das mehrere Industriestädte im Ruhrgebiet verbindet, spielt das Thema Renaturierung eine große Rolle: Kleine Flüsse, die früher als industrielle Abwasserkanäle ("Köttelbecke") dienten, werden inzwischen wieder freigelegt und ökologisch gesäubert. Auch die Haus-Skulpturen aus Stahl, Aluminium und Beton werden einem Wandel unterworfen sein.
Der temporäre Alterungsprozess sei Teil der künstlerischen Arbeit, sagt Marta Dyachenko. Erste Spuren von Rost an den Miniaturgebäuden sind gewollt, die Sichtachsen mit angelegt. "Es ist eine Komposition, aus Formen und Material, wo wir den Zerfallsprozess mit einplanen. Viele Flächen werden verrosten und gleichzeitig haben wir Flächen, die nachdunkeln. Und dann haben wir Oberflächen aus Edelstahl, die so bleiben, wie sie sind."
Ein Kunst-Projekt für die Ewigkeit. Die Endfassung ist noch offen, es kommen eventuell noch Gebäude dazu. Jetzt hat die Natur dort das letzte Wort. Auch und gerade in Corona-Zeiten ist die Installation von Julius von Bismarck und Marta Dyachenko einen Ausflug oder eine Radtour zur Kunst wert.
Info: Die "Neustadt" im Landschaftspark Duisburg-Nord kann jederzeit kostenlos besichtigt werden - ein Open Air. Das Kunstprojekt wurde in Zusammenarbeit mit der Emschergenossenschaft und Urbane Künste Ruhrgebiet realisiert. Seit 1. Mai 2021 ist der Blick auf die "Neustadt" freigegeben.