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PolitikEuropa

Politisches Erdbeben in Großbritannien

Barbara Wesel
20. Oktober 2022

Es war die kürzeste Amtszeit jemals: Nach knapp sechs Wochen als britische Premierministerin hat Liz Truss das Handtuch geworfen. Das Chaos, das ihr verfehlter Wirtschaftsplan ausgelöst hat, war nicht mehr einzudämmen.

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Liz Truss UK Rücktritt
Bild: TOBY MELVILLE/REUTERS

Am Mittag machte in London die Nachricht die Runde, dass Graham Brady die Premierministerin aufgesucht habe. Und die Spannung stieg. Der Vormann der konservativen Parlamentsfraktion ist der Vollstrecker der Partei, der in die Downing Street kommt, um den Amtsinhabern zu übermitteln, dass die Abgeordneten ihnen das Vertrauen entziehen. So war es schon 2018 beim erzwungenen Abgang von Theresa May und zuletzt im Sommer bei Boris Johnson.

Ende einer kurzen Amtszeit

Angeblich hatte Liz Truss selbst um dieses Treffen mit Brady gebeten, vielleicht um ihn davon zu überzeugen, ihr noch eine Chance zu geben. Was er der Premierministerin dann aber hinter verschlossen Türen über die Stimmung in der Fraktion erzählte, muss so katastrophal gewesen sein, dass Liz Truss von sich aus ihren Rücktritt verkündete. "Ich erkenne in dieser Situation, dass ich das Mandat, mit dem ich gewählt worden bin, nicht erfüllen kann", sagte sie lapidar zum Abschied.

Nachdenklicher Kwasi Kwarteng
Finanzminister Kwasi Kwarteng wurde erstes Opfer der Premierministerin, die versuchte, ihren Hals zu retten Bild: Kirsty Wigglesworth/AP Photo/picture alliance

Ein langjähriger Abgeordneter hatte am Mittwochabend im Unterhaus seiner Wut über die Vorgänge der letzten Wochen freien Lauf gelassen: Charles Walker nannte sie "unentschuldbar, jämmerlich und eine totale Schande". Er betonte auch, aus dieser Lage gebe es keine Rückkehr. Die Situation der Regierung  sei "abscheulich", fügte Walker hinzu, er sei wutentbrannt. Wenn dieser Ausbruch die Stimmung in der Fraktion wiedergibt, ist klar, warum Truss sich nicht weiter halten konnte und sie am 44. Tag ihrer Amtszeit - als kurzlebigste Regierungschefin der britischen Geschichte - das Handtuch werfen musste.

Politische Achterbahnfahrt

Liz Truss war im Sommer aus einem parteiinternen Wahlkampf hervorgegangen, in dem sie sich als Liebling der rechten Parteibasis profiliert hatte. Das Unheil begann, als sie die radikal marktliberalen Ideen, mit denen sie den Premierministerposten gewonnen hatte, auch in die Praxis umsetzte. Ihr Finanzmister Kwasi Kwarteng stellte einen Haushalt vor, der aus Steuersenkungen für Reiche und gleichzeitigen Ausgabensteigerungen bestand. Liz Truss nannte das einen Plan für Wachstum. Die Finanzmärkte aber sahen das Vertrauen in die finanzielle Stabilität Großbritanniens erschüttert, das Pfund verfiel, die Bank of England musste die Pensionsfonds retten, die Hypothekenzinsen stiegen.

Liz Truss wild gestikulierend im Parlament
Am Mittwoch hatte Liz Truss im Unterhaus noch um ihr Amt gekämpft - einen Tag später war sie raus Bild: House Of Commons/PA Wire/dpa/picture alliance

Das internationale Echo war verheerend, sogar US-Präsident Joe Biden erklärte, die Politik von Liz Truss sei "ein Fehler" gewesen. Die Premierministerin versuchte durch verschiedene Kehrtwenden, Teile ihrer Vorhaben zurückzunehmen. Doch am letzten Freitag musste sie radikale Konsequenzen ziehen. Truss feuerte ihren Finanzminister, der einer ihrer engsten politischen Freunde war und der lediglich ihren politischen Willen genau ausgeführt hatte. Ersatzmann wurde der frühere Gesundheitsminister Jeremy Hunt, der innerhalb von 48 Stunden sämtliche Pläne von Liz Truss über Bord warf. Hunt kündigte harte Zeiten mit einer neuen Sparpolitik an: Alle Steuersenkungen wurden zurückgenommen und die Ausgabenbremse eingelegt.

Am Mittwoch erreichte das Chaos dann einen weiteren Höhepunkt: Bei der Fragestunde im Unterhaus hatte Truss noch erklärt, sie sei "eine Kämpferin, und keine die aufgibt". Kurz darauf aber kam die Nachricht, dass Truss auch ihre Innenministerin Suella Braverman, Liebling der harten Tory-Rechten, rausgeworfen hatte. Offizieller Grund war ein Formfehler, tatsächlich aber ging es aber wohl um den Versuch der Premierministerin, die Tore für mehr Immigration zu öffnen, um damit die Wirtschaft anzukurbeln. Bravermann hatte das vehement abgelehnt.

Jeremy Hunt spricht vor einer Fernsehkamera
Der neue Finanzminister Jeremy Hunt stimmte die Briten auf harte Zeiten ein, Premier will er nicht werdenBild: Chris J Ratcliffe/Getty Images

Auf den Verlust eines zweiten Kabinettsmitglieds folgte dann am Abend eine geradezu phantastisch entgleiste Abstimmung im Unterhaus. Es ging um Fracking, aber wahlweise auch um ein Misstrauensvotum, angezettelt von der Labour Party. Die meisten der konservativen Abgeordneten lehnen Fracking ausdrücklich ab, sie sahen sich aber gezwungen, dafür zu stimmen, um Truss nicht zu stürzen. Der Abend endete in Geschrei und Rangeleien - und Tory-Abgeordnete blieben wütend zurück. Dieser Zirkus war dann offensichtlich der Anfang vom Ende, das nach britischer Tradition in brutaler Geschwindigkeit kam.

Rückkehr von Boris Johnson? 

Bis zum Freitag nächster Woche wollen die Konservativen entscheiden, wer Liz Truss im Amt folgen soll. Das unglaublichste Gerücht hierzu ist, dass Boris Johnson seinen Hut in den Ring werfen wolle. Er habe sich auf den Rückweg von einem Mittelamerika-Urlaub gemacht und seine Unterstützer in der Partei verweisen darauf, Johnson sei ein Wahlgewinner, der die Torys aus der gegenwärtigen Misere führen müsse.

"Ich hoffe du hast deinen Urlaub genossen, Boss. Es ist Zeit zurückzukommen. Im Büro müssen ein paar Dinge erledigt werden", twitterte James Duddridge, Johnsons ehemaliger parlamentarischer Staatssekretär. Wie weit die Pläne einer wunderbaren Wiederkehr von Boris Johnson sich bewahrheiten, der doch im Juli davon gejagt worden war, ist offen: Allein die Überlegung aber spricht Bände.

Als mögliche Kandidaten gelten ansonsten der frühere Finanzminister Rishi Sunak, der aber wenig konsensfähig scheint, weil viele ihm noch den Sturz von Boris Johnson zur Last legen. Er hatte im Sommer immer wieder betont, dass Truss' Finanzpolitik absurd und realitätsfern sei. Außerdem läuft sich Penny Mordaunt warm, derzeit Fraktionsführerin der Torys im Unterhaus, die aber über wenig echte Regierungserfahrung verfügt. Der derzeitige Finanzminister Jeremy Hunt hat bereits abgewunken, er wolle den Posten nicht. Wer über das Wochenende noch aus der Wandtäfelung steigt, muss sich zeigen. Ein echter "Einigkeitskandidat", der die zerstrittenen Tories zusammenführen könnte, ist bis jetzt nicht in Sicht.

Die Auswahlkriterien sind inzwischen klar: Bis Montag müssen Kandidaten aufgestellt werden, die mindestens 100 Unterschriften mitbringen. Gibt es mehr als einen Kandidaten, folgt noch am Montag eine Debatte und danach eine Online-Abstimmung unter den Parteimitgliedern. Die Konservativen lassen also wieder die Parteibasis entscheiden, die beim letzten Mal eine so desaströse Wahl traf.

Ist es nicht Zeit für Neuwahlen?

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nannte die Lage in London eine "unheilige Unordnung". Liz Truss sei dabei aber nur das Symptom eines zerbrochenen politischen Systems. Neuwahlen wären "eine demokratische Notwendigkeit". Oppositionsführer Keir Starmer findet noch stärkere Worte: Es gehe jetzt nicht mehr um "eine Seifenoper bei den Konservativen". Man könne nicht noch ein solches Experiment machen, denn der dadurch für die Bürger entstandene Schaden in Form steigender Preise und Hypothekenzinsen sei real: "Die britische Öffentlichkeit muss jetzt selbst entscheiden können, wir brauchen Neuwahlen."

Boris Johnson an einem Rednerpult vor dem Amtssitz
Boris Johnson bei seiner Abschiedsrede vor 10 Downing Street - wollen ihn die Tories wirklich zurückholen? Bild: Toby Melville/REUTERS

Der Verfassungsexperte Vernon Bogdanor erklärte bei der BBC die Lage: Konstitutionell gebe es keinen Zwang, jetzt Neuwahlen abzuhalten. Zwar seien nur einmal in der Geschichte, während des Zweiten Weltkrieges, zwei Premierminister in einer Wahlperiode ersetzt worden. Aber rechtlich sei das durchaus möglich. Das politische Argument dagegen sei sehr stark für Neuwahlen, sagte der Rechtsprofessor: "Ein neuer Premierminister braucht ein Mandat für die Sparpolitik, die jetzt von Jeremy Hunt angekündigt wurde", aber das sei eben die politische Betrachtungsweise.

Die Konservativen wehren sich verständlicherweise mit Händen und Füßen gegen Neuwahlen. Derzeit liegt die oppositionelle Labour Party in den Umfragen mit rund 30 Punkten vor den Torys. Die Mehrheit der derzeit 357 konservativen Abgeordneten würde ihre Wahlkreise verlieren, gerade in den früheren Labour-Hochburgen, wo sie vor drei Jahren Zugewinne hatten, würden sie nach den Prognosen jeden einzelnen Sitz wieder einbüßen. Die Gründe für einen neuen Ersatz-Premierminister sind aus ihrer Sicht also stark. Wie viel Erfolg er oder sie dann mit einer harten Sparpolitik in einem Amt haben könnte, das seine Glaubwürdigkeit verloren hat, ist fraglich.