Justizreform in der Türkei
25. März 2007Taxim, der quirlige, moderne Teil der Millionenstadt Istanbul. Gläserne Bürotürme, zahlreiche Hotels, Designerläden, Kneipen und Kaffees bestimmen das Bild. In der breiten Fußgängerzone wird es nie ruhig, Tag und Nacht sind Tausende, vor allem junge Leute unterwegs. Überall läuft laute Musik, türkische oder internationale Popsongs.
In einer kleinen Seitenstraße liegt die Anwaltskanzlei von Deha Boduroglu. Er empfängt Besucher mit einem Tee im gemütlichen Besprechungsraum. Ohne Tee beginnt kein Gespräch in der Türkei.
Entschlossene Reformen – zumindest auf dem Papier
Es habe sich viel getan im türkischen Justizsystem in den letzten Jahren, erklärt der Anwalt für Wirtschaftsrecht. 2004 wurden die militärisch dominierten Staatssicherheitsgerichte und die Todesstrafe abgeschafft. 2005 traten ein neues Strafgesetzbuch, eine neue Strafprozessordnung und ein Gesetz über die Vollstreckung von Urteilen in Kraft, die allesamt eine Reihe positiver Änderungen enthielten. Das Strafgesetzbuch beispielsweise bietet Frauen einen verbesserten Schutz vor Gewalt, die Gesetze zum Schutz von Angeklagten wurden deutlich ausgeweitet.
Doch die meisten Reformen existierten bislang nur auf dem Papier, kritisiert Boduroglu. Nachdem Inhaftierten das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wurde, erzählt er, sei ein Kollege zur Polizei gegangen, um einen Mandanten zu betreuen – mit bösen Folgen: "Die Polizisten haben ihn geschlagen und haben gesagt: 'Bist du verrückt? Das ist hier die Türkei und nicht Frankreich oder Amerika, was denkst du, wo du bist?'"
Keine unabhängige Berufung von Richtern und Staatsanwälten
Das größte Problem sei aber die Tatsache, dass es in der Türkei praktisch keine Gewaltenteilung, also auch keine unabhängige Justiz gebe, sagt Boduroglu. Denn über Berufung, Suspendierung und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten entscheidet nach wie vor der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte. So steht es in Artikel 159 der türkischen Verfassung.
Ein weiteres Hindernis für einen funktionierenden Justiz-Apparat sei die völlige Überlastung der Richter: Sie müssen bis zu 700 Fälle pro Jahr bearbeiten. Außerdem seien die Bezahlung der Richter und die Ausstattung der Gerichtsgebäude schlecht. Erst allmählich tue sich da etwas, so Boduroglu. Bei vielen Gerichten würden die Akten und Gerichtsprotokolle mittlerweile per Computer erfasst und dadurch viel einfacher für Anwälte zugänglich.
Erfahrung mit Gerichtshöfen
Auch Eren Keskin hat ihre Erfahrungen mit türkischen Gerichtshöfen gemacht - als Anwältin und als Angeklagte. Sie hat ihr kleines Büro ein paar Straßen weiter im Stadtteil Beyoglu. Sie ist eine kleine, drahtige Frau und alles andere als unauffällig: Sie trägt ein Samt-Oberteil mit Blumenmuster über dunklen Leggings, ihre langen schwarzen Haare sind hochtoupiert, die Augen mit kräftigen schwarzen Kayal-Strichen im Cleopatra-Stil umrandet.
Weil sie bei einer Veranstaltung in Köln ihm Jahr 2002 behauptet hat, die Armee würde bei Hausdurchsuchungen in Kurdistan systematisch Frauen vergewaltigen, wurde sie wegen Beleidigung der Sicherheitskräfte angeklagt. Außerdem wurde gegen die Juristin ein einjähriges Berufsverbot verhängt. Doch all das hindert die resolute Frauenrechtlerin nicht daran, die Rolle des Militärs weiterhin anzuprangern.
"Das Militär regiert das Land"
Die Türkei habe zwar ein parlamentarisches System, sagt Keskin, "aber die innen- und außenpolitische Macht übt weiterhin das Militär aus. Das Militär regiert das Land." Der Prozess der Annäherung an die Europäische Union habe keine tiefgreifenden Veränderungen gebracht: "Das sind vorerst nur Visionen."
Auch Folter gebe es weiterhin in türkischen Gefängnissen, erzählt sie, nur sei diese mittlerweile subtiler und hinterlasse weniger Spuren bei den Betroffenen. Statt Schlägen oder Verbrennungen würden die Gefangenen wiederholt mit eiskaltem Wasser übergossen oder müssten stundenlang stehen.
An die Angst gewöhnt
Solche Äußerungen und auch wiederholte Kritik am Umgang der Regierung und der Sicherheitskräfte mit der kurdischen Minderheit haben der Halb-Kurdin viele Feindschaften eingebracht. Sie ist zwei Mordanschlägen knapp entgangen, täglich treffen Beleidigungen und Morddrohungen per Post oder Telefon ein. Sie weiß, dass sie sich durch ihre offene und direkte Kritik in Gefahr bringt, doch da sei sie nicht die einzige. Und: "Ich weiß, dass ich deswegen auch getötet werden kann, aber ich habe mich an diesen Gedanken gewöhnt."
Mittlerweile darf Eren Keskin zwar wieder als Anwältin arbeiten, aber viele trauen sich nicht mehr zu ihr, erzählt sie ein wenig traurig. Die wenigen Klienten, die sie noch hat, sind fast alle Frauen, die meisten davon Kurdinnen. Geld verlangt Keskin von den den wenigsten.
Anerkennung erhielt die Vizepräsidentin des Türkischen Menschenrechtsvereins bisher vor allem im Ausland. So erhielt sie 2001 den Amnesty International-Menschenrechtspreis, sie ist Trägerin des Aachener Friedenspreises 2004 und wurde 2005 mit dem Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit ausgezeichnet.
Treffen Sie im zweiten Teil die bekannte Schriftstellerin Elif Shafak, die wegen ihres jüngsten Romans vor Gericht stand.
Bebek, ein Nobel-Vorort von Istanbul. In einem schicken Hotel, direkt am Fluss gelegen, sitzt Elif Shafak, eine der aufstrebenden, jungen Autorinnen des Landes. Es ist viel los in der Hotelbar, hier kommen Vertreter der türkischen Oberschicht nach der Arbeit zusammen. Ein Glas Orangensaft kostet soviel wie anderswo eine ganze Mahlzeit. Elif Shafak ist der ganze Rummel unangenehm, das Interview findet in einem ruhigeren Zimmer statt.
Beleidigung des Türkentums
Nach der Veröffentlichung ihres jüngsten Romans "Der Bastard von Istanbul" stand die 33-Jährige - auf Initiative türkischer Nationalisten - wegen Beleidigung des Türkentums nach Artikel 301 vor Gericht. Der Stein des Anstoßes: Eine Romanfigur, die behauptet, dass der Tod von hundertausenden Armeniern während des 1. Weltkriegs ein Genozid gewesen sei. Mit dieser Interpretation ist Elif Shafak nur eine von vielen Autoren, Journalisten, Medienmachern, die die Macht des Staates über den umstrittenen Artikel 301 zu spüren bekommen haben.
Ihr Urteil über die Situation der Intellektuellen in der Türkei fällt gemischt aus. Auf der einen Seite gebe es den Artikel 301 über die Beleidigung des Türkentums, der ein Hindernis auf dem Weg zur Meinungsfreiheit darstelle: "Viele Leute, ob Verleger, Schriftsteller oder auch Übersetzer, wurden aufgrund von Artikel 301 verhört oder angeklagt – und fast immer von denselben Leuten, die eine bestimmte Mentalität haben." Auf der anderen Seite sei die Türkei, sei gerade eine Stadt wie Istanbul eine ständige Inspiration für sie, sagt Elif Shafak: " Die Konflikte, die Gegensätze sind hier so stark. Für einen Künstler, für einen Schriftsteller ist diese Stadt eine Fundgrube."
Massiver Umbruchsprozess
Die türkische Gesellschaft befindet sich nach Ansicht der Schriftstellerin in einem massiven Umbruchprozess. Die heftigen Diskussionen um die Armenien-Frage seien das beste Beispiel dafür. Noch vor zehn oder 20 Jahren habe Schweigen über dieses Thema geherrscht, nun rede man darüber. Das provoziere eine Art Gegenreaktion: Je größer die gesellschaftlichen Umwälzungen sind, umso heftiger sei auch die Angst derer, die den Status Quo aufrechterhalten wollten.
Die Einführung des Artikels 301 bei der jüngsten Strafrechtsreform im Jahr 2005 sei ein sichtbares Indiz für die Befürchtungen dieser konservativen Gruppen, meint Shafak. Doch es gehe ihnen nicht in erster Linie um Schriftsteller oder Journalisten, sondern um den Annäherungsprozess an die EU: "Das Hauptanliegen der Konservativen ist es, den Beitrittsprozess zu stoppen."
Anklage fallen gelassen
In der Tat scheint es um mehr zu gehen als darum, Schriftsteller wegen Beleidigung des Türkentums ins Gefängnis zu bringen. Die Anklage gegen Elif Shafak wurde im vergangenen September fallengelassen.
Anders als in Istanbul wird in Ankara nicht gehupt und nicht gedrängelt. Der Weg vom Flughafen ins Zentrum der Hauptstadt führt vorbei an modernen Glasbürotürmen und zahlreichen Hotels.
Im Justizministerium, in einem großen Büro mit einer imposanten Ledercouchgarnitur, arbeitet Ahmed Firhat, ehemaliger Richter und Leiter der Abteilung für EU-Angelegenheiten. Wie steht es aus seiner Sicht um die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei steht? Ja, er sehe die Problematik der Zusammensetzung des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte, sagt Firhat. Aber er betont, dass es ernsthafte Bestrebungen gebe, diese zu modifizieren.
"Niemand kann dem Gericht Anweisungen geben"
Gegen den Vorwurf, Staatsanwälte und Richter könnten nicht frei entscheiden, verwehrt sich der Jurist, denn Artikel 138 der Verfassung garantiere die Unabhängigkeit der Justiz: "Niemand kann dem Gericht, den Richtern oder Staatsanwälten Anweisungen geben, niemals wird etwa im Parlament über noch laufende Verfahren gesprochen."
Firhat sieht auch bei der Ausstattung der Justiz Handlungsbedarf, bei der schlechten Bezahlung und der zumindest zum Teil schlechten Ausbildung der Juristen. Doch in all diesen Fragen sei der EU-Annäherungsprozess ein wichtiger Katalysator. Dutzende Gesetze seien im Laufe von bislang neun Reformpaketen geändert und an EU-Richtlinien angepasst worden, berichtet Firhat stolz. 10.000 neue Richter wurden eingestellt, mehrere tausend wurden von EU-Experten geschult. Der Etat des Justizministeriums sei angehoben worden.
Verbesserung in Aussicht
Auch die Meinungsfreiheit sieht der Jurist nicht grundsätzlich gefährdet. Die Diskussionen um den umstrittenen Artikel 301 - Beleidigung des Türkentums - würden sich bald legen, meint er. Im Übrigen sei ja bislang niemand deswegen ins Gefängnis gewandert. Als das Mikrofon ausgeschaltet ist, gibt er zu verstehen, dass über eine Veränderung - wenn nicht sogar eine Abschaffung des Artikels - bereits nachgedacht wird.