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Verfassungsdebatte, von vorn

Bernd Riegert 17. Mai 2004

Kürzere Entscheidungswege, mehr Bürgernähe, größeres Gewicht: All das soll die erste Verfassung der Europäischen Union bringen. Aber der Text ist umstritten. Eine neue Runde des Wortpokers steht an.

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Was wird wohl letztendlich drin stehen?Bild: AP

Bertie Ahern, der derzeitige EU-Ratsvorsitzende aus Irland, hat eine Mission: die letzten Stolpersteine für eine europäische Verfassung finden und aus dem Weg räumen. Eine Woche lang tourte er deshalb durch alle Hauptstädte der neuen Mitgliedsstaaten und der Mittelmeeranrainer der EU. Nach den Regierungswechseln in Spanien und Polen stehen die Chancen denn auch gut, die Verfassung noch im Juni unter Dach und Fach zu bringen.

In Warschau versicherte ihm der neue polnische Ministerpräsident Marek Belka, er wolle einen Kompromiss nicht verhindern. Der spanische Ministerpräsident Jose Luis Zapatero, auch erst seit einigen Wochen im Amt, ließ Ähnliches von sich hören. Im Dezember 2003 hatten Polen und Spanien mit ihrem Veto gegen ein neues Abstimmungsverfahren den Verfassungsgipfel platzen lassen. Bertie Ahern geht davon aus, dass jetzt alle 25 EU-Staaten das Prinzip der doppelten Mehrheit aus Staaten und Bevölkerung akzeptieren.

Komplizierte Zahlen- und Rechenspiele

Inzwischen hat der Poker darüber begonnen, wo die Schwellen für diese Mehrheiten liegen sollen. Spanien schlägt vor, dass die einfache Mehrheit der Staaten mindestens zwei Drittel der Bevölkerung von 450 Millionen EU-Bürgern darstellen muss. Deutschland hat dagegen die Formel 55-55 ins Spiel gebracht: Danach müssten 55 Prozent der Staaten, das wären 14, zustimmen, die 55 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Damit soll verhindert werden, dass kleinere Staaten all zu einfach eine Blockade organisieren können. Mit dieser Linie kann sich offenbar auch der polnische Ministerpräsident Marek Belka anfreunden. Die Parole "Sterben für Nizza" gilt im Warschauer Parlament wohl nicht mehr. Damit war der Vertrag von Nizza aus dem Jahr 2000 gemeint, der mittelgroßen Staaten wie Spanien und Polen ein ähnliches Stimmengewicht wie den Elefanten Deutschland und Frankreich einräumt.

Etliche Änderungsanträge

Jetzt, da eine Lösung für den Abstimmungsmodus greifbar scheint, machen die anderen offenen Fragen der Verfassung den irischen Unterhändlern wieder mehr Sorgen. Denn je näher der Termin des EU-Gipfel am 17. und 18. Juni rückt, an dem die Staats- und Regierungschefs die Verfassung im zweiten Anlauf verabschieden sollen, desto mehr Wünsche werden von Mitgliedsstaaten und Interessengruppen wieder angemeldet. Auf 130 Seiten hat Bertie Ahern die strittigen Punkte zusammengefasst.

Großbritannien hat alleine 25 Änderungsanträge, seine so genannten rote Linien, vorgelegt, darunter das Vetorecht in allen Fragen die Steuern, Sozialsysteme, Verteidigung und Außenpolitik angehen. Einstimmigkeit wird von anderen Mitgliedern in den Politikbereichen Justiz und Inneres verlangt. Alle neuen Mitgliedsstaaten, außer Polen, verlangen, dass der EU-Kommission ein stimmberechtigter Kommissar pro Mitgliedsland angehören muss. Der Verfassungsentwurf sieht bislang nur 15 Kommissare vor, deren Ämter rotierend vergeben werden.

Auszüge aus der Wunschliste

Polnische Bischöfe und die konservative Fraktion im europäischen Parlament haben erneut einen eindeutigen Bezug auf das christlich-jüdische Erbe in der Präambel der Verfassung angemahnt. Ein einfaches Begleitschreiben zum Gottesbezug, das der Verfassung hinzugefügt wird, reiche nicht aus, meinten die katholischen Bischöfe. Dies hatte der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski vorgeschlagen. Da Frankreich und Belgien auf strenger Trennung von Staat und Kirche bestehen, hat der irische Verhandlungsführer Bertie Ahern bereits Anfang Mai gesagt, der Gottesbezug habe keine Chance.

Auch Irland selbst hat noch Wünsche. Das Land, in dem seit einigen Wochen totales Rauchverbot an allen Arbeitsplätzen, in öffentlichen Gebäuden und Gaststätten herrscht, möchte den Kampf gegen Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch in die Verfassung schreiben. Spanien gibt sich beim Abstimmungsmodus jetzt kompromissbereit, hat aber in letzter Minute entdeckt, dass Katalanisch unbedingt als offizielle Sprache der EU anerkannt werden sollte.

Notausgänge gibt es nicht

Unstrittig ist hingegen der Vorschlag der irischen Ratspräsidentschaft, in die Verfassung den Satz aufzunehmen, dass alle Mitgliedsstaaten, ob groß ob klein, vor dem Europäischen Grundgesetz dieselben Rechte und dasselbe Gewicht haben. In einer Serie von Ergänzungen zum Entwurf des Verfassungskonvents soll außerdem die so genannte Team-Präsidentschaft geregelt werden. Der Vorsitz der EU-Ministerräte soll künftig alle 18 Monate an eine Dreier-Gruppe von Staaten gehen.

Auf große Skepsis bei Bertie Ahern trifft ein deutsch-französischer Vorschlag zur Ratifizierung der Verfassung. Da es neben Großbritannien noch einige weitere Staaten wie Dänemark, Schweden oder Irland gibt, in denen ein Nein der Bevölkerung in einer Volksabstimmung das ganze Projekt kippen könnte, wollen Berlin und Paris vorbauen. Die Verfassung sollte auch in Kraft treten, wenn 20 der 25 Mitgliedsstaaten das Gesetzeswerk innerhalb von zwei Jahren ratifizieren, so der Vorschlag. Bislang sieht der Verfassungsentwurf als einzigen Notausgang vor, dass die Staats- und Regierungschefs nach zwei Jahren noch einmal beraten können, wenn bis dahin nicht 80 Prozent der Staaten ratifiziert haben.

Krönender Abschluss für Bertie Ahern?

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, den Deutschland und Frankreich in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge brechen, erhält auch Verfassungsrang. Er wird aus den bisherigen Verträgen der EU übernommen. Sollten die Kriterien für Neuverschuldung geändert werden, wie dass Bundeskanzler Gerhard Schröder offenbar überlegt, wäre jetzt Gelegenheit, an der Stellschraube zu drehen. Da im Moment alle 25 Staats- und Regierungschefs empfänglich für Änderungen, Verhandlungen und Kuhhandel sind, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, meinen einige EU-Diplomaten. Wenn die Verfassung erst einmal in Stein gemeißelt ist, würde wahrscheinlich eine lange Zeit vergehen, bis alle 25 Mitglieder wieder bereit sind, den Stabilitätspakt, und damit die Verfassung, zu ändern.

Voller Neid wird die elegante und effiziente Verhandlungsführung des Bertie Ahern in Rom verfolgt. Die italienische Ratspräsidentschaft war an der Verfassung gescheitert. Ministerpräsident Silvio Berlusconi wurde nach dem missglückten Gipfel mit Hohn und Spott bedacht. Jetzt ist Irland kurz davor, seine Präsidentschaft mit der Verfassung zu krönen. Bertie Ahern empfiehlt sich mit seinem Verhandlungsmarathon für höhere Aufgaben. Er wird inzwischen als Kandidat für das Amt des nächsten EU-Kommissionspräsidenten genannt, der ebenfalls im Juni
nominiert werden soll.