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"Was mir passiert ist, kann jeden treffen"

Gero Schließ, Washington15. Mai 2014

Anthony Graves wurde irrtümlich zum Tode verurteilt und nach mehr als 18 Jahren entlassen. Fehlurteile und qualvolle Hinrichtungen wie jetzt in Oklahoma heizen die Diskussion um die Todesstrafe an.

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Anthony Graves (Foto: CHANTAL VALERY/AFP/Getty Images)
Bild: CHANTAL VALERY/AFP/Getty Images

Wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem Anthony Graves hätte hingerichtet werden sollen, nimmt SheJuan Oliphant kein Blatt vor den Mund: "Die Todesstrafe ist dringend notwendig. Ohne sie gäbe es definitiv mehr Kriminalität." Die junge Frau arbeitet beim Texas Car Title and Payday Loan, einem privaten Geldverleiher in Huntsville. Das Dorf liegt eine gute Autostunde von Houston entfernt.

Huntsville hat fragwürdige Berühmtheit erlangt, weil hier hinter den Backsteinmauern des örtlichen Gefängnisses die Todesurteile texanischer Gerichte vollstreckt werden. Texas ist der Staat mit den meisten Hinrichtungen in den USA: Insgesamt waren es 1270 Menschen. Mehr als 280 verurteilte Todeskandidaten warten zur Zeit nach Angaben der texanischen Justiz auf ihre Exekution - in der sogenannten "death row", dem Todestrakt. Doch SheJuan Oliphant lässt sich nicht beirren: "Ich habe null Toleranz für Leute, die rumlaufen und Babys oder Familien ermorden."

Qualvolle Exekution in Oklahoma

An diesem Tag war wieder eine Hinrichtung geplant. Pünktlich um 18.00 Uhr sollte Robert Campbell die Todesspritze verabreicht werden. Campbell ist Afro-Amerikaner, genauso wie SheJuan Oliphant. Familienangehörige waren bereits angereist und harrten auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis aus. Eine Mitarbeiterin des Texanischen Criminal Justice Department informiert darüber, dass die Hinrichtung kurzfristig abgesagt wurde. Ein Bundesgericht hatte im letzten Augenblick einem aufschiebenden Antrag von Campbells Verteidigern stattgegeben. Das sei im Rahmen des Gesetzes und nichts Außergewöhnliches, erklärt später der Pressesprecher des Criminal Justice Department, Jason Clark.

Gefängnis in Huntsville, USA (Foto: CHANTAL VALERY/AFP/Getty Images)
Im Gefängnis von Huntsville werden die texanischen Todesurteile vollstrecktBild: CHANTAL VALERY/AFP/Getty Images

Nach einer misslungenen Hinrichtung in Oklahoma, die dem Todeskandidaten schreckliche Qualen bereitete, bevor er schließlich an einem Herzinfarkt verstarb, ist in den USA die Diskussion über die Todesstrafe erneut entbrannt. Präsident Obama ordnete eine Untersuchung an. Kann so etwas in Texas auch passieren? Jason Clark hat keinen Zweifel an der Professionalität der Experten und überhaupt will er keinen Vergleich mit Oklahoma zulassen. "Wir haben 33 Hinrichtungen mit Pentobarbital durchgeführt und hatten keinen einzigen Vorfall. Sie können Texas und Oklahoma nicht miteinander vergleichen."

Freiheit - nach 18 Jahren

Während Anthony Graves in Huntsville saß, war sein Hinrichtungstermin zweimal bekannt gegeben worden, zweimal wurde er verschoben. Nach mehr als 18 Jahren Haft kam er frei. Sein Fall war neu aufgerollt und seine Unschuld festgestellt worden. Graves ist der 138. Häftling in den USA, der nach einem fehlerhaften Todesurteil freigekommen ist.

Todeszelle in Huntsville, USA (Foto: DW/Gero)
Die Todeszelle im Gefängnis von HuntsvilleBild: DW/G. Schließ

Mehr als 18 Jahre hinter Gittern, davon die meiste Zeit in Einzelhaft in fensterlosen Zellen, immer den Tod vor Augen und dabei die Gewissheit, unschuldig zu sein. Auf die Frage, wie er das ausgehalten habe, antwortet Anthony Graves, er sei naiv gewesen, grenzenlos naiv. Er habe an Gerechtigkeit geglaubt, selbst noch in den langen Jahren im Todestrakt. Ohne diese "Naivität", da ist sich Graves sicher, hätte er das nicht überlebt.

Überleben im Todestrakt

Anfangs habe er es nicht für möglich gehalten, dass Polizei, Staatsanwalt und Richter voreingenommen seien. "Ich habe immer hundertprozentig kooperiert", sagt er. Der Vorwurf, er habe eine gesamte Familie ausgelöscht und dann auch noch deren Haus in Brand gesteckt, war so ungeheuerlich, dass er zunächst von einer schnellen Klärung ausging. "Der Gedanke, dass ich Menschen ermordet haben sollte, die ich gar nicht kenne und die mich nicht kannten - das ging gar nicht."

Als Graves damals völlig ahnungslos von der Polizei abgeholt und verhört wurde, war das ein "Schock" für ihn. Als er dann nach Monaten der Ungewissheit zum Tode verurteilt wurde, war nicht nur sein eigenes Leben zerstört. "Es war die Hölle für die ganze Familie. Keiner wusste, wie er damit umgehen sollte. Insbesondere meine Mutter nicht: Der eigene Sohn in der Todeszelle." Die Leute seien nicht gerade freundlich gewesen, sagt er.

Gewöhnen ans Leben in Freiheit

Graves ist jetzt dreieinhalb Jahre wieder "zurück" in der Freiheit. Es brauche Zeit, die Teile seines Lebens wieder zusammenzufügen. Seine drei Söhne waren damals Kinder. Jetzt sind sie Männer in ihren Zwanzigern und selber Väter. An größere Menschenansammlungen oder überhaupt Gesellschaft mit anderen musste er sich nach der langen Einzelhaft erst wieder gewöhnen. "Ich weiß nicht, wie er das alles überlebt hat und heute ein glücklicher Mensch ist", sagt die Houstoner Anwältin Kathryn Kase, die Graves persönlich kennt und als langjährige Direktorin der Organisation "Texas Defenders" für ein gerechteres und professionelleres Justizsystem in Texas kämpft.

Graves ist kurz nach der Entlassung seiner heutigen Freundin begegnet, sie ist Deutsche. Mit dem Geld, das er als Entschädigung erhielt, hat er eine Stiftung gegründet. Die in Houston beheimatete Anthony Graves Stiftung kümmert sich um all das, was Graves schmerzlich vermisste: Unterstützung für betroffene Familien, Weiterbildung von Anwälten, öffentliche Kampagnen. Heute ist Graves ein gefragter Redner, sitzt bei Veranstaltungen mit angesehenen Anwälten und Politikern an einem Tisch.

Screenshot Anthony Graves Foundation (Foto: http://www.anthonygravesfoundation.org/)
Die Homepage von Graves' StiftungBild: www.anthonygravesfoundation.org

Etwa mit dem früheren Generalstaatsanwalt von Virgina, dem Republikaner Mark Earley, der seine Einstellung zur Todesstrafe geändert hat: "Ich hatte als Staatsanwalt mit 36 Exekutionen zu tun und muss sagen, dass sich meine Ansichten geändert haben. Ich war immer ein starker Befürworter der Todesstrafe, heute bin ich das nicht mehr."

Vier Prozent der Todesurteile ein Irrtum?

Ihre Ausführung sei oftmals fehlerhaft, sagt er und verweist nicht nur auf die misslungene Hinrichtung in Oklahoma, sondern auch auf Fehlurteile. Nach einer konservativen Schätzung der National Academy of Science sind vier Prozent der Todesurteile ein Justizirrtum. Mehr als 3000 Menschen warten in den USA gegenwärtig auf ihre Hinrichtung. So wie seinerzeit auch Anthony Graves. Er hat in den dreieinhalb Jahren in Freiheit einen "Kreuzzug" gegen die Todesstrafe geführt und den Menschen erzählt, was ihm vor mehr als 18 Jahren zugestoßen ist. "Das könnte jedem passieren", sagt er und spricht mit eindringlicher Stimme. "Jeder könnte in diese Situation geraten."

Seine nächsten Worte überraschen: "Wir sind Amerikaner", sagt er mit Pathos und dem unerschütterlichen Glauben an einen Staat, der ihm mehr als 18 Jahren lang nach dem Leben trachtete. Die ganze Welt blicke auf Amerika, das verpflichte sein Land, für das denkbar Beste auf höchstem moralischem Niveau zu streiten. "Und die eigenen Leute hinzurichten ist kein gutes Beispiel für die Welt. Wir sind schließlich Amerika!"