Welt der Stille
22. August 2008Am Eingang liegen sich zwei Teilnehmer vor Wiedersehensfreude in den Armen. Nebenan diskutiert eine Gruppe lebhaft. Ein Verbandssprecher gibt ein Interview. Zwei Freundinnen quatschen beim Kaffe über ihren Alltag. Ein Kind ruft hinter seinem Vater etwas zu. Eine Großveranstaltung. Und es herrscht: Völlige Stille. Überall fliegen die Hände. Es gibt viel zu erzählen. Und wer braucht dafür schon eine Stimme?
"Mit vollen Händen spricht man nicht"
"Gebärdensprache ist einfach unglaublich emotional", sagt Jutta. Sie ist Dolmetscherin und hilft zusammen mit ihren Kolleginnen den wenigen Hörenden, sich zurecht zu finden. "Dieser Ausdruck im Gesicht, der ganze Körper, der mitspricht, das ist bei dieser Sprache schon etwas ganz besonderes." Jutta hat selbst eine gehörlose Schwester, lernte als Baby als erstes die Gebärdensprache. "Damit konnten wir beiden uns prima von unseren Eltern absetzen", sagt sie und lacht. "Die haben uns nicht verstanden." Und so mussten die Eltern spontan bei der Erziehung die Tisch-Manieren umbenennen: "Mit vollen Händen spricht man nicht."
"Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache, genauso wie jede andere Sprache", erklärt Christiane Metzger, Sprecherin des Deutschen Gehörlosen-Bundes. "Man kann damit alles ausdrücken, Gebärdensprache hat einen Satzbau, eine eigene Grammatik und kann auch abstrakte Begriffe erklären." Deswegen würden sich die meisten Gehörlosen auch nicht als behindert sehen, erklärt Metzger. "Sie sind Mitglied einer Sprachminderheit. Und das schweißt zusammen."
Regionale Unterschiede
Was viele nicht wissen: Jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache. Und auch regional gibt es Unterschiede in den Gebärden, quasi Dialekte. Da denkt der Hamburger schon mal, der Bayer wolle sich die Haare schneiden lassen – dabei will er nur ein Würstchen bestellen. Sich international zu verständigen geht für Gehörlose aber immer noch leichter als für Sprechende: "Es gibt viele Gebärden, die international ähnlich sind. Das findet man sich schnell ein", sagt Dolmetscherin Jutta. Als sie sich mit einem polnischen Dolmetscher austauschen wollte, fielen beide ganz schnell in die Gebärdensprache. "Wir haben es mit Lautsprache probiert und sind gescheitert", sagt Jutta. "Gesprochen sind Polnisch und Deutsch eben doch zu unterschiedlich. In Gebärdensprache geht das viel besser."
Fremde in der hörenden Welt
Viele Gehörlose finden ihren Halt in der Gemeinschaft der Gehörlosenverbände. "Das ist wie meine Familie", sagt Dodzi aus Recklinghausen. "Hier fühle ich mich wohl, hier bin ich zu Hause. Es ist meine Gehörlosen-Welt. Hier bin ich endlich mal kein Fremder." In der anderen Welt, der hörenden Welt da draußen sei das anders, erklärt er. Dodzi ist doppelt fremd: Er ist gehörlos, und er ist Ausländer, seine Familie kommt aus Togo. Da stößt er immer wieder in der Gesellschaft auf Hindernisse, Ablehnung und Ausgrenzung. "Man darf auf keinen Fall verzweifeln", sagt er. "Gehörlos sein macht sehr stark."
"Ich lebe in einer anderen Welt", erklärt auch Christine. Sie ist seit ihrer Geburt gehörlos, hat aber hörende Eltern. "Für mich war es ganz toll, als ich irgendwann andere Gehörlose kennengelernt hab – und damit auch die gehörlose Welt. Auf einmal konnte ich mich verständigen, gehörte ich dazu", sagt sie. Sie ist stolz, gehörlos zu sein.
Probleme im Alltag
Wenn sich die gehörlose Welt und hörende begegnen, gibt es immer wieder Probleme und Hilflosigkeit auf beiden Seiten. Behördengänge und Arztbesuche können für Gehörlose zum unüberwindbaren Hindernis werden. Das Gesetz schreibt zwar mittlerweile vor, dass jedem Gehörlosen für Behördengänge kostenlos ein Dolmetscher gestellt werden muss, aber der Alltag sieht oft anders aus. Der Dolmetscher hat keine Zeit, es muss schnell gehen, und plötzlich stehen Gehörlose in der hörenden Welt vor einer Mauer – aus Unverständnis und Berührungsangst.
Zum Beispiel Christine. Sie wollte bei der Autoversicherung ihr Auto ummelden. "Als ich dem Berater erklärte, dass ich gehörlos bin und wir doch bitte schriftlich kommunizieren, war er total ablehnend", erzählt sie. "Er hat mir nur ein Formular in die Hand gedrückt und mich damit alleine gelassen. Ich war so frustriert." Als sich später ihre Eltern bei der Autovermietung beschwerten, habe sich der Mann entschuldigt, erzählt sie. "Er hatte noch nie mit einem Gehörlosen zu tun gehabt und war einfach völlig überfordert."
100 Prozent Untertitel?
"Bei der Integration gibt es noch sehr viel zu tun", bestätigt Alexander von Meyeen, Präsident des Deutschen Gehörlosen Bundes. So zum Beispiel beim Thema Untertitel von Fernsehsendungen. "Zurzeit haben nur 8,4 Prozent aller Fernsehsendungen Untertitel", erklärt von Meyeen. "Die Privatsender verschließen sich uns völlig, dabei haben die Milliardengewinne. Da muss sich dringend etwas ändern." Auf einer Großdemonstration durch Köln machen die Gehörlosen am Samstag auf ihre Forderung nach mehr Untertiteln aufmerksam. "Wir wollen genauso Nachrichten, Spielfilme und Serien schauen können wie jeder andere auch", erklärt ein Teilnehmer.
Gebärdensprache wichtig für Kinder
Dass Gehörlose den Sprechenden einfach von den Lippen ablesen können, ist ein weit verbreiteter Trugschluss. "Selbst geübte Lippenableser verstehen nur etwa 30 Prozent des Gesprochenen", erklärt Christiane Metzger. "Alles andere müssen sie erraten." Deswegen sei es so wichtig, gehörlosen Kindern schon früh Gebärdensprache beizubringen. "Selbst in vielen Gehörlosen-Schulen unterrichten die Lehrer bis heute nicht in Gebärdensprache, sondern sprechen", sagt sie. "Die Kinder müssen dann versuchen, den Lehrer irgendwie zu verstehen – obwohl sie nicht hören können. Das ist für die Entwicklung der Kinder katastrophal."
Diese Erfahrung machte auch Helmut Schmidt mit seinem Sohn Leo. Leo ist von Geburt an gehörlos. In der Schule kam er nicht mit, verkümmerte. "Er hatte einfach keine Sprache, in der er sich ausdrücken konnte", sagt Schmidt. "Dadurch kam er in der Schule nicht mehr mit." Heute ist Leo 19 und sucht eine Lehrstelle, bislang erfolglos. Seine Defizite im Textverstehen sind zu groß. Sein Vater engagiert sich im Elternverband für gehörlose Kinder. Er fordert eine gezielte Unterstützung gehörloser Kinder. In Skandinavien bekomme jedes Kind von klein auf Unterricht in Gebärdensprache und zusätzliche Förderung, erklärt er. "Wir dagegen wurden mit unserem gehörlosen Baby von den Medizinern und der Politik alleine gelassen."
Gehörlos - na und?!
"Die Medizin ist bis heute nur darauf ausgerichtet, die gehörlosen Kinder mit Implantaten, Operationen und Sprachtraining in die hörende Welt zu zwingen", sagt Christiane Metzger. "Dabei wäre es Aufgabe der Ärzte, den Eltern zu vermitteln, dass ein gehörloses Baby nicht das Ende der Welt bedeutet. Die Kinder können bilingual aufwachsen – mit gesprochener Sprache und Gebärdensprache. Viele Gehörlose haben so studiert und erfolgreiche Karriere gemacht."
Ein bisschen mehr Akzeptanz von den Hörenden – das wünschen sich viele Gehörlose. "Es wäre toll, wenn jeder Hörende vielleicht ein paar Grundgebärden könnte", sagt Christine. "Dann könnte man sich viel besser verstehen". Und dann könnten sich zwei Welten begegnen. Die Laute - und die Stille.